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Brief von Willi Dickhut an die KPD/ML (NEUE EINHEIT)  vom 9. Februar 1971

 

Liebe Genossen!

9.2.71                   

Nach dem Bericht, den Dieter und Otmar über die zentrale Jugendkonferenz gaben, soll Bernd erklärt haben, daß 1. auf der Wuppertaler zentralen Besprechung die ZK-Richtlinien des ZK des KAB(ML) vom Nov.70 verworfen worden seien, 2. die Auffassung der Blnr. Gruppe gegenüber dem KAB(ML) betr. der Diskussion in Tübingen von mir unterstützt worden sei. Sollte die Mitteilung zutreffen, halte ich die Behauptung Bernds nicht für korrekt.

Zu 1: Die Richtlinien wurden in Wuppertal nicht inhaltlich verworfen, sondern die Form des Aufbaus der Richtlinien sollte nach meinem Vorschlag präziser gestaltet werden und von der wirtschaftlichen und politischen Lage ausgehen. Daß das bis jetzt nicht geschehen ist, kann ich mir nur durch die Überlastung der Genossen erklären. Der alte Entwurf durfte dann allerdings nicht der Jugendkonferenz zur Diskussion vorgelegt werden. Das hätte kritisiert werden müssen.

Zu 2: Fast zwei Tage lang haben Kl., J. und ich in meiner Wohnung die in Tübingen diskutierten Fragen behandelt, wobei ich zunächst die Verfahrensweise der getrennten Dreieckgespräche kritisierte, statt ein gemeinsames zentrales Gespräch zu führen. Ganz abgesehen von der dreifachen Belastung müßten Ungenauigkeiten in der Wiedergabe der Gespräche neue Differenzen aufkommen lassen, die am besten gemeinsam geklärt werden können. Das zeigt die Behauptung Bernds, die nicht zutrifft. Wie war es wirklich? Unserer Besprechung lag der Brief zugrunde, der mir von Euch ein paar Tage vorher übermittelt wurde. Wir haben Punkt für Punkt zu dem Inhalt der in dem Brief aufgezeigten Differenzen Stellung genommen, wobei ich mich bemühte, vor allem Klaus von seiner vorgefaßten, falschen Auffassung abzubringen. Mir ist es unbegreiflich, daraus eine Zustimmung zu konstruieren. Wenn dabei etwa ein Mißverständnis zugrunde liegen sollte, dann will ich hiermit meinen Standpunkt noch näher präzisieren:

Punkt 1. Beurteilung der kommenden Entwicklung in der BR. Ich hatte vor einer falschen Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung und der daraus gezogenen Schlußfolgerungen gewarnt und auf einige Gegenmaßnahmen des Monopolkapitals hingewiesen. Zur Klarstellung will ich das jetzt noch näher erläutern. Die aufgekommenden Krisenerscheinungen werden keineswegs in eine solche tiefgreifende Wirtschaftskrise ausmünden, wie viele Genossen annehmen. Begründung: Noch nie haben sich die Monopolkapitalisten mit Hilfe des Staatsapparates so rechtzeitig und gründlich auf die kommende Wirtschaftskrise vorbereitet wie diesmal und vorsorgende Maßnahmen ergriffen, die auf die Krise bremsend einwirken. Solche Maßnahmen sind:
1. Die Bundesregierung hatte 1970 durch Sperre bestimmter Ausgaben und durch Minderausgaben 1,7 Mrd. DM eingespart und durch den Konjunkturzuschlag (10-Prozent-Zuschlag auf Lohn- und Einkommensteuer zum Zwecke der Einschränkung des privaten Verbrauchs) wurden bis Ende 1970 rund 2,3 Mrd. DM stillgelegt, wodurch für kommende öffentliche Investitionen rund 5 Mrd. DM mehr zur Verfügung stehen. Geplant ist für 1971 eine Ausdehnung der öffentlichen Investition um 15%, wobei an die Rückzahlung des Konjunkturzuschlages noch nicht gedacht ist - er soll zunächst weiter anwachsen.
2.  Zur Förderung privater Investitionen wurde ab 1.1.71 die Investitionssteuer von 4 auf 2% reduziert. Das deutsche Industrieinstitut hält im Rahmen einer "konjunkturellen Abfangstrategie" eine Auflockerung der Geld- und Kreditpolitik für notwendig. So soll der Diskontsatz und die Zinsen auf Spareinlagen gesenkt werden. Zwei Sparkassen in Hannover haben bereits ab 1.1.71 den Zinssatz von 5 auf 4½ % gesenkt, die Großbanken wollen ab 1.2. folgen. Bei einer Preissteigerung von 4% im Jahr sind damit die Sparzinsen fast aufgezehrt, wodurch einerseits viele Kleinsparer sich veranlaßt sehen, ihr Geld abzuheben, wodurch der private Verbrauch gesteigert wird, anderseits der Wirtschaft billige Kredite zur Verfügung stehen, wodurch die Investitionsbestrebungen gefördert werden.
Gewiß werden die Investitionen nicht mehr die Höhe der beiden letzten Jahre der Hochkonjunktur haben, die gegenüber dem jeweiligen Vorjahr 1969 um 17,2%, und 1970 sogar um 22%. stiegen und die auf die Unterbringung der riesigen Gewinne zurückzuführen waren, denn die ausgewiesenen Gewinne stiegen gegenüber den Vorjahr 1969 um 6,1% und 1970 um 7,5%. Da die ausgewiesenen Gewinne bedeutend höher besteuert werden als die Investitionen, ergab das einen Anreiz die Gewinne möglichst wertbringend anzulegen.
Da die Investitionen sich jedoch nicht auf Nachholbedarf beschränken, sondern im wesentlichen Neuanlagen auf modernster Grundlage (vielfach Automation) beinhalten, haben sie eine Ausweitung der Produktionskapazität zur Folge, was eine Überproduktion nach sich zieht. Das war bereits Ende vorigen Jahres bei der Elektroindustrie der Fall. Während im Durchschnitt die Industrieproduktion 1970 gegenüber 1969 um 7% stieg, wurde die Produktion der Elektroindustrie um 15,2% erhöht, wodurch die Lager sich vor allem mit Elektrogeräten füllten und die Unternehmer zu Kurzarbeit und Entlassungen veranlaßte. Das Beispiel zeigt, daß die Investierungen für 1971 etwas zurückhaltender getätigt werden. Als Auswirkung der Investierungs-Förderungs-Maßnahmen wird trotzdem noch mit einem Anstieg von 5% gegenüber 1970 gerechnet.

Die Regierung rechnet für 1971 mit einer Erhöhung der Lohnsteuer um 17,4% und der Einkommensteuer um 10,6%. Die Einkommensteuer war ursprünglich höher eingestuft, doch haben die Kapitalisten Möglichkeiten ihre Steuern niedrig zu halten. So wurden 1970 völlig legal über 5 Mrd. DM durch Gewinnüberweisung ins steuergünstigere Ausland (vor allem die Schweiz) der Bundeskasse entzogen. Es sind aber Reserven, die die Kapitalisten gegebenenfalls einsetzen können, wenn Not am Mann ist.

Das Monopolkapital wird versuchen evtl. Ausfall von Inlandsaufträgen durch gesteigerten Export aufzufangen. Auch hier wurden bereits Maßnahmen eingeleitet. So sieht der Bundesetat 1971 eine Erhöhung der "Bürgschaften zur Sicherung des Exportes" um 3 auf 33 Mrd. DM vor. In diesem Zusammenhang sind die Verträge mit der Sowjet-Union und Polen wichtig, die nicht nur politischen Charakter haben, sondern auch wirtschaftlich von Bedeutung sind. Die zweifellos im Auftrage des Monopolkapitals durchgeführte Reise Schröders nach Moskau und Barzels nach Warschau diente vor allem der Sicherung der wirtschaftlichen Beziehungen, auch wenn die politischen Verträge durch die Opposition der CDU/CSU gefährdet würden.

Die von den Krisenerscheinungen zuerst betroffen werden sind kleinbürgerliche Existenzen, die in einem mörderischen Konkurrenzkampf stehen. Die Zahl der Handwerksbetriebe sank von 1966 bis 1970 um 50000. Trotzdem stieg der Umsatz der übrigen von 13,5 auf 17,7 Mrd. DM. Besonders die Einzelhandelsgeschäfte werden von den großen Filialgeschäften und Versandhäusern unter Konkurrenzdruck gesetzt. Es wird mit einem Ausfall von ein Viertel der 400000 Einzelhandelsgeschäfte für die nächste Zeit gerechnet. Die großkapitalistischen Versandhäuser in der BR verkaufen jährlich an jeden Einwohner im Durchschnitt für 80 DM; das ist der höchste Satz aller kapitalistischen Länder. Auch die kleinen Bauernbetriebe kommen unter den Hammer. Betriebe bis 20 ha sind nicht mehr zu halten, trotz Schufterei und Einschränkung der Lebenslage ihrer Besitzer. Die jetzige Schweineschwemme, entstanden durch ein Mehrangebot von 1,6 Millionen Tiere, drückt die Preise um ein Viertel. Durch Subventionen der Regierung wird der Ruin der kleinen und vieler Mittelbauern nicht aufgehalten, denn von den 34 Mrd. DM Subventionen, die 1970 ausgezahlt wurden, erhielt die Landwirtschaft zwar den größten Anteil, nämlich 28%; doch flossen diese staatlichen Gelder hauptsächlich in die Taschen der Großbauern und Großagrarier, die kleinen Bauern gingen leer aus. Die ruinierten kleinbürgerlichen Schichten werden ins Proletariat hinabgestoßen und belasten bei zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeit den Arbeitsmarkt. Trotzdem wird sich erst Herbst bis Jahresende herausstellen, ob die krisenbremsenden Maßnahmen ausreichen, die Vertiefung der beginnenden Krisenerscheinungen aufzuhalten oder ob die Rezession nicht mehr aufzuhalten ist.

Die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik wird natürlich auch von der wirtschaftlichen Entwicklung der Nachbarländer, besonders der EWG, beeinflußt. Aber auch in diesen Ländern werden krisenbremsende Maßnahmen ergriffen. So senkte die Bank von Frankreich den Diskontsatz in diesen Tagen von 7 auf 6,5% (Aug.70 von 8 auf 7,5 und Okt.70 auf 7%). Durch diese und andere Maßnahmen rechnet man für 1971 in Frankreich mit einem Anstieg der Investitionsausgaben um 14%. Schwieriger ist die Wirtschaftslage in England, aber das war sie auch bereits 1970 mit einem Wirtschaftswachstum von nur 1,5% und einem Preisauftrieb von 7% (3,8% in der BR). Kein Wunder, daß bei einer derartigen Preissteigerung eine Kette ökonomischer Streiks ausgelöst wurden, die einen Ausfall von 7,4 Millionen Arbeitstage zur Folge hatten.

Ich habe hier einige wesentliche Merkmale einer wirtschaftlichen Analyse aufgezeigt, die Euch von der Haltlosigkeit Eurer Prognose überzeugen soll. Wir haben auch nicht mit einer erheblichen Verschärfung der Klassenkämpfe in der nächsten Zeit zu rechnen, was den Ausbruch ökonomischer Streiks nicht ausschließt. Selbst wenn die krisenbremsenden Maßnahmen des Monopolkapitals und der Regierung nicht ausreichen sollten und die Rezession beginnt, werden die Kapitalisten Kurzarbeit einführen und Entlassungen vornehmen. Diese Maßnahmen wirken sich zunächst keineswegs revolutionierend auf die Arbeiterklasse aus, sondern - das zeigt die jahrzehntelange Praxis - im Gegenteil deprimierend. Der Kampf um den Arbeitsplatz beginnt, was zur Folge hat, daß die Arbeiter und Angestellten vor den Angriffen der Kapitalisten zurückweichen. Erst im weiteren Verlauf der Entwicklung werden sie einsehen, daß ihr individuelles Streben, den Arbeitsplatz für sich zu erhalten, kein Erfolg haben kann, sondern ihr Elend nur verstärken wird, daß nur der kollektive Kampf zur Verteidigung ihrer Interessen ihnen helfen wird. Leider wird dieser Prozeß nicht so kurzfristig sein, wie es wünschenswert wäre, denn das hängt nicht zuletzt von dem Einfluß der revolutionären Partei ab. Dieser Einfluß wird vorerst noch gering sein. Das bedeutet, daß die Massen bei zunehmender Unzufriedenheit über die Politik der SPD, deren Rolle sie erst allmählich durchschauen, sich zunächst der DKP zuwenden, die ihren Revisionismus durch eine scheinrevolutionäre Phraseologie zu verdecken versucht (Gottschall, Landesvorsitzender der DKP von Rheinland-Pfalz auf der vor kurzem in Mainz stattgefundenen Konferenz der DKP: "Wir werden unsere revolutionäre Pflicht erfüllen!").

Wir werden diese Entwicklung nicht verhindern:
a) weil wir viel zu schwach sind,
b) weil die Massen nicht zwischen den verschiedenen ML-Gruppen unterscheiden können und alle für einflußlose Sektierer halten,
c) weil wir - vorausgesetzt der Vermeidung von Fehlern und der Aufstellung einer richtigen strategischen und taktischen Linie - auch durch die ultralinke Politik anderer ML-Gruppen in Mißkredit geraten (wer kann schon unterscheiden zwischen den verschiedenen Linien der KPD/ML: Aust - Weinfurt - Genger - Heuzeroth - Schütt - KB/ML - KPD/AO usw. und unsere Gruppen und dem KAB(ML). Das macht ja den Mitgliedern der verschiedenen Gruppen Schwierigkeiten, trotz ideologischer Diskussionen und Spaltungen,
d)  weil unsere Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit erst ganz am Anfang steht und noch mit Fehlern behaftet ist.

Ihr seid im Irrtum, wenn Ihr annehmt, daß es nur darauf ankommt eine richtige Politik zu entwickeln - das ist die erste Voraussetzung - es kommt jedoch im entscheidenden Maße darauf an, diese richtige Politik in die Massen hineinzutragen, also eine richtige und intensive Praxis zu entfalten. Darum bitte ich Euch eins immer wieder zu beachten: wir werden nur durch zähe, systematische, geduldige, tagtägliche sachliche Arbeit in den Massen, durch eine grundsätzlich richtige aber taktisch bewegliche Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Einfluß bekommen. Jede „linke" Phraseologie schadet uns nur, wie sie von den Aust- und Gengerleuten betrieben wird. Darum bitte ich Euch nicht vorschnell Vorurteile zu äußern wie "kapitulantenhafte Haltung" oder "eindeutig revisionistisch".

Ihr nehmt an, daß wir in "absehbarer Zeit mit dem Faschismus als Hauptgegner der Arbeiterklasse rechnen" müssen. Das ist nicht richtig. Ihr übertragt die Verhältnisse der 20er Jahre schematisch auf die heutige Zeit, aber überlegt folgendes:

1. wiederholt sich eine Weltwirtschaftskrise nicht in dem damaligen Ausmaß, denn die Kapitalisten haben auch gelernt und bereiten rechtzeitig bremsende Maßnahmen vor (siehe oben). Die gewaltige Weltwirtschaftskrise zermalmte die sozialen Reformen, während heute noch kein Ende der sozialen Reformen zu erwarten ist.
2. gab es damals für das Monopolkapital, um seine Herrschaft gegen den zunehmenden revolutionären Ansturm aufrechtzuerhalten, nur die eine Möglichkeit, die schwindende Massenbasis der SPD als bisherige Hauptstütze, durch die zweite, die faschistische Massenbasis als neue Hauptstütze auszuwechseln. Eine andere Alternative gab es nicht, weil das Bürgertum in über 30 "Parteien" zersplittert war.
3. besteht heute neben der Massenbasis der SPD die der CDU/CSU. Die Massenbasis beider Parteien ist noch unerschüttert. Wenn heute das Monopolkapital bereits die Kader (mehr ist es noch nicht) für eine faschistische Massenbasis als evtl. zukünftige Hauptstütze aufbaut, dann ist das als langfristig ausgerichtete Politik zur Sicherung seiner zukünftigen Macht zu werten. Daraus ist zu schließen, daß bei einem Schwinden der Massenbasis der SPD zunächst wieder die Massenbasis der CDU/CSU eingeschaltet wird, was heute legal und leicht durchgeführt werden kann. Besagt das nun, daß wir den Kampf gegen die faschistische Gefahr vernachlässigen sollen? Nein! Wenn wir auch den Hauptstoß des Kampfes gegen die gegenwärtige Hauptstütze der Bourgeoisie, die SPD richten und ihre Rolle vor den breiten Massen entlarven müssen, so gilt es gleichzeitig auch den Kampf gegen die nächste Hauptstütze, die CDU/CSU und gegen die evtl. zukünftige faschistische Hauptstütze, als Reserve des Monopolkapitals, zu führen, um schon jetzt die faschistische Kaderbildung zu verhindern. Und dies letztere müssen wir durch gemeinsame Aktionen mit Mitgliedern und Sympathisierenden der SPD, DKP und der Gewerkschaften erreichen.

Punkt 2. In diesem Zusammenhang müssen wir auch die Rolle der SPD sehen. Ihr seht die Rolle der SPD nur als Wegbereiter des Faschismus. Das ist nicht richtig. Das trifft nur insoweit zu, als die SPD-Regierung nichts unternimmt, den Aufbau faschistischer Organisationen und deren provokatorisches Auftreten zu unterbinden, aber sie wird auch keine "Gesetze" erlassen "dem Faschismus den Weg zu ebnen". Wir haben in den 20er Jahren angenommen, daß die "sozialfaschistischen" Führer der SPD und Gewerkschaften auch in den faschistischen Staatsapparat aufgenommen bzw. eingebaut würden. Das war eine falsche Annahme, denn am 2.5.33 wurden SPD und Gewerkschaften verboten und aufgelöst, ihre Führer teils verhaftet, teils mußten sie emigrieren. Daraus hat auch die SPD-Führung ihre Lehren gezogen (allerdings keine konsequenten) und die Masse der SPD und Gewerkschaften sind antifaschistisch. Darum kann sich die SPD-Führung faschismus-fördernde Gesetze nicht erlauben. Was heißt das, der Name SPD sei "unmittelbar mit dem Verfall des Kapitalismus verknüpft"? Der Kapitalismus wird nicht von selbst untergehen, er findet selbst bei schwierigsten Lagen immer wieder einen Ausweg. Darin liegt ja die Bedeutung der Ausnutzung und des Auswechselns der jeweiligen Massenbasis. Außerdem müssen wir sehen, daß die Zusammensetzung der SPD gegenüber den 20er Jahren eine gewisse Verschiebung erfahren hat. Damals setzte sich die Mehrheit der Mitglieder aus Arbeitern und Angestellten zusammen, heute dagegen aus kleinbürgerlichen Elementen. Damals hatte die SPD durch ihre bürgerliche Politik mittelbar die Herrschaft des Monopolkapitals gesichert, heute sichert sie als Regierungspartei durch eine großbürgerliche, imperialistische Politik unmittelbar die Macht der Monopolkapitalisten. Sie ist zu einer Partei des Monopolkapitals geworden. Das ist doch ein wesentlicher Unterschied.

Wir dürfen allerdings nicht den Fehler begehen, die Monopolkapitalisten als einen einzigen geschlossenen reaktionären Haufen zu sehen. Das Monopolkapital ist gekennzeichnet durch mehrere Gruppierungen, die die verschiedenen wirtschaftlichen Interessen vertreten und sich in Widersprüchen äußern, die sich politisch niederschlagen. Die verschiedenen Gruppen schließen sich bei gleichlaufenden Interessen zusammen oder lösen sich bei aufkommenden Widersprüchen. Zur Wahrung der Hauptinteressen bildet sich jeweils eine Hauptgruppe heraus, die die Politik des Monopolkapitals bestimmt und die jeweilige Regierung führt diese Politik aus, so gegenwärtig die SPD/FDP-Regierung die sogenannte Entspannungspolitik zum Ausgleich mit den revisionistischen Ländern. Vor Jahren war es die Politik des kalten Krieges, der latenten Spannung, der damaligen Hauptgruppe des Monopolkapitals, die von der Adenauer-CDU/CSU-Regierung durchgeführt wurde. Je nachdem wie die Interessen der einzelnen Monopolkapitalisten befriedigt oder nicht befriedigt werden, wechseln sie von der einen zur anderen Gruppe über, wodurch auch eine Änderung in der Zusammensetzung der Hauptgruppe erfolgt. Die Partei, die die Politik der jeweiligen Hauptgruppe des Monopolkapitals am besten durchführen kann, wird so weitgehend unterstützt, daß sie zum Tragen kommt, um die Regierung zu bilden.

Punkt 3: Zur Stalinfrage sollen wir uns bemühen eine sachliche, d.h. objektive Beurteilung der Verdienste und Fehler Stalins abzugeben. Die Revisionisten leugnen oder bagatellisieren die Verdienste Stalins und stellen die Fehler Stalins übermäßig heraus. Von 1945 bis etwa 1954 wurden die Verdienste Stalins übermäßig hervorgehoben. In Artikeln, Schulungen, besonders auf Parteischulen wurde fast nur Stalin zitiert, Marx und Engels am Rande erwähnt und Lenin gewissermaßen als Schüler Stalins behandelt, Mao Tse-tung wurde überhaupt nicht erwähnt. Offensichtliche Fehler Stalins wurden verschwiegen oder vertuscht. Seit dem XX. Parteitag der KPdSU war alles umgekehrt.

Klaus sagt: "Ich habe alle Werke Stalins gelesen und keine Fehler festgestellt". In den theoretischen Arbeiten Stalins liegen ja gerade seine Verdienste, aber in der Praxis beging Stalin Fehler, die im Widerspruch zu seinen theoretischen Arbeiten standen. Wir müssen die Verdienste Stalins anerkennen, indem wir seine theoretischen Lehren studieren, verbreiten und in unserer täglichen Arbeit verwerten. Seine Fehler, soweit sie unsere praktische Arbeit nicht berühren (Fehler gegenüber der KPCH, Fehler beim Überfall auf die SU 1941, Fehler in der Angelegenheit Kostoff/Bulgarien, Reyk/Ungarn, Slanski/Tschechoslowakei u.a.) brauchen wir nicht herauszustellen, weil sie unsere Praxis kaum beeinflussen. Anders ist es mit dem Hauptfehler Stalins, die Entwicklung der Bürokratie in der SU, vor der Lenin immer gewarnt hat. Unter Stalin wurde das Parteimaximum (begrenztes Einkommen für Parteimitglieder) aufgehoben, wodurch die Bürokratie mit Parteibuch sich besonders entfalten konnte. Als sich die Widersprüche zwischen den Massen und der Bürokratie verschärften und Stalin die Gefahr erkannte, glaubte er die Widersprüche durch Maßnahmen von oben, durch den Staatssicherheitsdienst (der ja auch schon verbürokratisiert war), lösen zu können, anstatt die Massen zu mobilisieren und die Diktatur des Proletariats unmittelbar durch die Arbeiter zu verwirklichen. Statt Lösung der Widersprüche duckte sich zunächst die Bürokratie, um nach Stalins Tod durch Chruschtschow von allen Fesseln befreit zu werden. Die Bürokratie formierte sich nunmehr zur besonderen Klasse, die sich über die Massen stellte und die Restauration des Kapitalismus einleitete. Mit dieser Frage werden wir heute im Kampf gegen den Revisionismus immer wieder angesprochen, und darum ist dieser Fehler Stalins für unsere praktische Arbeit von Bedeutung. Nicht richtig ist es, wenn die Genossen des KAB(ML) die Verdienste und Fehler Stalins in Prozentzahlen ausdrücken. Dieser Schematismus ist deshalb falsch, weil die Auswirkung der Verdienste und Fehler Stalins eine Verschiebung erfahren hat. So wirkten sich die Fehler Stalins der KPCHs nicht so stark aus, weil die Partei unter Führung Mao Tse-tungs durch zum Teil entgegengesetzte politische und militärische Maßnahmen, eine verhängnisvolle Auswirkung der Fehler Stalins verhindert hat. Wie, wenn das nicht der Fall gewesen wäre? Umgekehrt wirkten sich die Fehler Stalins in der Frage der Bürokratie zu Lebzeiten Stalins noch nicht so schlimm aus, haben sich aber unter Chruschtschow verhängnisvoll für den Sozialismus ausgewirkt. Das kann man überhaupt nicht prozentual werten. Bei einer richtigen Lösung der Widersprüche zwischen den Massen und der Bürokratie, wie sie meisterhaft durch die Kulturrevolution in China vollzogen wurde, gäbe es heute noch den Sozialismus in der SU und der Revisionismus hätte sich nicht durchgesetzt. Die Stalinfrage ist m.E. keine Hauptfrage in der ML-Bewegung. Wir wollen Stalin weder über- noch unterbewerten. Wir sollen seine theoretischen Arbeiten ebenso für unsere Praxis auswerten, wie die von Marx, Engels, Lenin und Mao Tse-tung. Wir brauchen die Fehler Stalins, soweit die unsere Praxis nicht berühren, nicht hervorkehren. Da jedoch die Frage der Restauration des Kapitalismus in der SU für unsere Praxis im Kampf gegen den Revisionismus ungemein wichtig ist, die Ursache der Restauration aber in der Entwicklung der Bürokratie zur neuen Klasse zu suchen ist, der Anfang dieser Entwicklung in die Zeit unter Stalin zurückgeht, der Lösungsversuch der Widersprüche unter Stalin falsch war, können wir nicht umhin, diesen Fehler Stalins offen aufzuzeigen, um anderseits die gelungene Lösung durch die siegreiche Kulturrevolution in China unter Führung von Mao Tse-tung herauszustellen. Das ist umso notwendiger, weil jede siegreiche Arbeiterklasse in ihrem Land sich mit dem Problem der Bürokratie auseinandersetzen muß (ganz abgesehen davon, daß bereits vor der Machtübernahme die Bürokratisierung der Partei- und Gewerkschafts- Funktionäre eine große Bedeutung hat - seht Euch doch die hauptamtlichen Funktionäre der DKP an, die den Marxismus-Leninismus aufgegeben und die Revolution verraten haben).

Punkt 4: Zur Kritik an den Organen des KAB(ML) müssen wir davon ausgehen, daß wir Inhalt und Form verbessern wollen. Bei einer Kritik am Inhalt müssen wir unterscheiden zwischen taktischen und grundsätzlichen Fehlern, danach muß sich die Methode der Kritik  richten. Bei grundsätzlichen Fehlern muß gründlich vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus diskutiert werden: 1. um aus den prinzipiellen Fragen zu lernen, 2. um die Fehler schnellstens zu korrigieren und 3. um ähnliche Fehler zukünftig zu vermeiden. Bei geringfügigen taktischen Fehlern genügt meistens ein Hinweis und der Fehler wird ohne große Diskussion beseitigt. Manchmal handelt es sich nicht einmal um Fehler, um doch Kritik anzuwenden, z.B. über Form und Aufmachung. In jedem Falle sollten konkrete Vorschläge zur Beseitigung von Fehlern und Verbesserung des Inhalts und der Form mit der Kritik verbunden werden. Wir müssen uns bemühen, eine helfende, kameradschaftliche Kritik anzuwenden (ohne in Liberalismus zu verfallen) und hier, liebe Genossen, mangelt es sowohl in Euerem Brief, wie auch in der geführten Diskussion.

Ich will auch noch auf die Schlußfolgerungen Eures Briefes eingehen, die ich im Interesse der Schaffung der Einheit für gefährlich halte. Eure Warnung, wir sollten vorsichtig sein und unsere organisatorische Selbständigkeit wahren, zeigt, daß Ihr die Vereinigung als Prozeß einer immer enger werdenden Zusammenarbeit noch nicht verstanden habt. Wenn wir in NRW auf die Herausgabe eigener Organe verzichten und die Organe des KAB(ML) bzw. RJ(ML) übernehmen, dann nicht allein deshalb, weil wir augenblicklich zu schwach an Kräften und Mitteln sind, um eigene Organe zu schaffen, sondern von dem Gedanken der Einheit aus, jetzt schon die ersten Schritte zu tun:

a)  Verbreitung der Organe (erster Schritt)
b)  Mitarbeit an der Gestaltung (zweiter Schritt)
c)  kollektive Redaktionsarbeit (dritter Schritt)

Was hat das mit der organisatorischen Selbständigkeit zu tun? Oder nehmen wir das innerparteiliche Organ "Lernen für den Kampf", was tut das, ob die Richtlinien für die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit von mir entworfen wurde und die nächste Nummer einen gemeinsamen Schulungsplan von einem Genossen des KAB(ML) aufgestellt wird? Wer soll denn da was aufgeben?
Ihr geht m.E. falsch an das Problem der Vereinigung heran. Einheit als dialektischer Prozeß bedeutet, daß auf der Grundlage einer in Hauptfragen gegebenen einheitlichen ideologisch-politischen Linie, die zwischen uns besteht, die sich in immer enger werdender Zusammenarbeit äußert, von jeder Seite ein Teil der regionalen Selbständigkeit zugunsten einer nationalen einheitlichen Organisation schrittweise aufgegeben wird. Ihr nehmt anscheinend an, daß die regionale Selbständigkeit kleinerer Gruppen zugunsten einer stärkeren Gruppe aufgegeben würde, das wäre letztenendes die ZB-Linie. Wir verzichten in NRW auf eigene Agitationsorgane, der KAB(ML) verzichtet auf die Schaffung eines eigenen theoretischen Organs. Beide Seiten arbeiten auf einheitliche Organe hin mit einheitlicher Redaktion und gemeinsamen Vertrieb. Warum wollt Ihr eigene Organe schaffen (außer die "Neue Einheit"), um die "Selbständigkeit" zu erhalten? Oder um unsere Meinungsverschiedenheiten auf diesem Wege auszutragen? Ein solcher Weg führt nicht zur Einheit, sondern in die Isolation. Wir müssen den festen Willen zur Einheit haben und auftauchende Meinungsverschiedenheiten in ideologischen, politischen und organisatorischen Fragen sachlich in gemeinsamen Konferenzen diskutieren und einen gemeinsamen Standpunkt erarbeiten. So wird die Einheit schrittweise vollzogen bis der letzte Akt nur noch ein formaler ist. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es zweckmäßig auch die jetzt anstehenden Fragen schnellstens zu klären. Ich halte es jedoch für unzweckmäßig, ungeklärte ideologisch-politische Fragen auf einer gemeinsamen Jugendkonferenz zu behandeln, bevor sie in der Partei entschieden sind. Bei aller organisatorischen Selbständigkeit der Jugendorganisation der Partei, über ideologische und politische Probleme muß die Partei entscheiden.

Ich habe Eurem Vorschlag entsprochen und mit den Genossen des KAB(ML) in Tübingen die Fragen diskutiert. Wir sind zu einem einheitlichen Standpunkt gelangt, der in meinen jetzigen Ausführungen nur noch konkretisiert worden ist. Ich lege das Protokoll dieser Aussprache bei und hoffe, daß Ihr noch einmal Eueren bisherigen Standpunkt in diesen Fragen überprüft, aber bedenkt, daß letztenendes die kommende Entwicklung und unsere Praxis die Fragen entscheiden. Darum spitzt bitte die Dinge nicht zu und vor allem seit zurückhaltend bezüglich Veröffentlichung, denn wie Dieter und Otmar mir berichten, soll Bernd entsprechende Veröffentlichungen angekündigt haben. Es hat keinen Sinn auf solche Art und Weise eine Selbständigkeit nachweisen zu müssen, was nur neue Schwierigkeiten und Widersprüche zur Folge haben kann. Überlegt das doch bitte gründlich. Daß organisatorisch das Schwergewicht vorläufig noch auf regionaler Ebene liegt, entspricht eben unserer gegenwärtigen Schwäche.

Eine Mitteilung: Ende Januar hat sich eine Gruppe Intellektueller aus Bochum von dem Genger-ZB gelöst und ist der Aust-Gruppe in Bochum beigetreten.

In Erwartung Euerer Antwort verbleibt mit

kommunistischem Gruß

Willi      <Unterschrift>

 

(Ganz offensichtliche Rechtschreibfehler im Brief wurden bei der Abschrift stillschweigend, ohne besonderen Vermerk, korrigiert.)

 

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