(Erschienen als NEUE EINHEIT Extrablatt Nr.32 --- Juni 1997)
 
 
 
Klaus Sender
 
José Carlos Mariátegui und kulturelle Fragen
der peruanischen Revolution
 
 
I.

 

Unter den Revolutionären Lateinamerikas ist José Carlos Mariátegui in den letzten Jahren international sehr bekannt geworden. Er spielt in der lateinamerikanischen Revolution unverkennbar eine große Rolle. Er hat neben zahlreichen marxistischen Schriften, die sich mit der Praxis und dem Programm befassen, auch viel über die peruanische Literatur und Kultur geschrieben. Außerhalb Lateinamerikas ist er erst in den letztem Jahrzehnten stärker in das Bewußtsein gerückt worden. Bislang sind die Übersetzung seiner "Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen" sowie eines Dutzends weiterer Artikel in deutscher Sprache erschienen. Mariátegui ist aus der peruanischen Revolution im ersten Drittel dieses Jahrhunderts hervorgegangen. Zahlreiche politische Parteien und sogar Regierungen in Lateinamerika berufen sich auf ihn. Die PCP (Sendero Luminoso des José C. Mariátegui) bezieht sich schon von ihrem Namen her auf ihn und nimmt ihn in einer entschiedenen Weise für sich in Anspruch.

 Um sich mit ihm zu befassen, muß man sehen, welche Rolle die peruanische Revolution in den internationalen Zusammenhängen spielt und darüber hinaus welche Rolle überhaupt Lateinamerika in der internationalen Entwicklung spielt.

 Peru ist das Land in Lateinamerika, das von dem stärksten und dem intensivsten Rückgriff auf seine eigene frühamerikanischen Geschichte, die inkaische Geschichte vor der spanischen Eroberung, geprägt ist. Es hat dadurch eigenen nationalen Impetus aus tiefer Verankerung in der Jahrtausende alten indianischen Kultur, die sich mit der neueren Entwicklung des spanischen Vizekönigreiches und der modernen peruanischen Republik (seit 1821) verbinden. Eine langjährige Besonderheit der peruanischen Revolution liegt gerade auch in dem Rückgriff auf dieses alte peruanische Volksbewußtsein, das sich in der inkaischen Bevölkerung vor allen Dingen verkörpert. In der Literatur des Landes wie auch anderer andiner Staaten ist seit ungefähr hundert Jahren dieser Rückgriff auf die indigenen Traditionen ein charakteristisches Merkmal.

 Die Bedeutung José Carlos Mariáteguis liegt darin, daß er den Marxismus, der Anfang dieses Jahrhunderts ja unbestritten in der ganzen Welt eine so bedeutsame und vorantreibende Rolle spielte, mit diesen Traditionen verband und daß er versuchte, diese Traditionen selbst in einem materialistischen Licht zu beleuchten. Er wird deshalb von den Lateinamerikanern als ein bedeutender und originaler marxistischer Vertreter gesehen, der in kreativer Weise versuchte, die eigene Geschichte und die Geschichte des lateinamerikanischen Kontinents aufzuarbeiten.

 Der Staat Peru ist in heutiger Zeit noch das Kerngebiet des alten peruanischen, besser gesagt inkaischen Staates, der sich einmal auf dem Höhepunkt von Ecuador bis in den Süden Chiles und nach einigen Vermutungen sogar bis in das La Plata Gebiet Südamerikas erstreckte. Und hier entstand die höchstentwickelte indianische staatliche Gemeinschaft, die je existierte, mit einem Staat von ca. 20 Millionen Einwohnern, einem hohen Organisationsgrad, einem hoch entwickelten Straßenbau und Zentralisation, obwohl sich diese Gesellschaft noch auf der Stufe der Bronzekultur bewegte. Begleitet war sie noch von vielen Phänomenen, die man bei dieser Stufe der Entwicklung oft findet. Dazu gehörten hier Menschenopfer, sakrale Kulte und ähnliches und eine entsprechende Despotie. Es bestand schon lange vor der Herrschaft der Inkas eine dorfgemeinschaftliche Kultur in den Anden, die Inkas waren vermutlich ein "Ayllu" (das ist die damalige Dorfgemeinschaft in den Anden), der sich zu Herrschaft über die übrigen staatsähnlichen Gruppierungen aufschwang. Das Inkareich verleibte sich dann noch zahlreiche Nachbarreiche ein.
Diese Gesellschaft kannte nicht das Rad, die Schrift soweit bekannt und nicht das Pferd und verschiedene technische Errungenschaften, die sich in der euro-afrikanisch-asiatischen Hemisphäre entwickelten; dafür hatten sie aber einen hohen Organisationsgrad, zum Beispiel im Straßenbau, und bildeten eine eigene, relativ hochstehende Ethik heraus, soweit das im Zusammenhang mit der Bronzezeit möglich war. Wie auch bei anderen indianischen Kulturen ist die Inkagesellschaft mit ihren bäuerlichen Dorfgemeinschaften durch eine tiefe Verbundenheit mit dem Boden und der Entwicklung der Landwirtschaft und landwirtschaftlicher Anlagen (Terassenbau) geprägt. Es ist unter anderem der Wert der Ausführungen Mariáteguis, daß er versucht die kommunistischen Traditionen dieser Gesellschaft, die trotz der schon entwickelten Despotie noch existierten, zu erfassen.
 

 In Peru entwickelte sich das Bewußtsein dieser alten Traditionen naturgemäß am stärksten. Und deswegen sehen manche Peru auch als so etwas wie eine Stätte nationaler Wiedergeburt für den südamerikanischen Kontinent, jedenfalls in einer bestimmten Hinsicht. Das Wort "bestimmte Hinsicht" ist dabei sehr wichtig, denn natürlich gibt es längst moderne Strukturen, eine moderne Gesellschaft in Lateinamerika, eine kapitalistische Gesellschaft, die sich unweigerlich mit jedem Tag mehr durchsetzt. Wir wissen aber, daß in allen Gesellschaften sich die alten Strukturen und auch die alten Denkweisen mit einpflanzen und daß sie auch ein unentbehrlicher Bestandteil der Kultur eines Landes sind. Jede Gesellschaft bringt auch etwas durch ihre Herkunft in die moderne Gesellschaft mit ein. Von daher müssen wir diese Ideologie und diese Denkweisen bewerten. Deshalb kommt auch dem theoretischen Ansatz, diese eigene Entwicklung marxistisch zu erklären, wie es Mariátegui versuchte, Bedeutung zu.

 Natürlich müssen auch einige moderne Fakten ins vordere Rampenlicht gebracht werden. Wir müssen z.B. fragen, welche Bedeutung diese andine Landwirtschaft für die peruanische moderne Wirtschaft überhaupt hat. Es gibt Theorien, nach denen es nur noch ein winziger Bruchteil des Bruttoinlandsproduktes ist, der dort erzeugt wird. Heute leben in Peru von fünfundzwanzig Millionen Einwohnern sechs Millionen allein in Lima - eine Konzentration auf die großen Städte, mit neuem Elend und mit einer Umbruchsituation, wie sie heute in vielen Teilen der Dritten Welt existiert, die natürlich ganz neue Fragen aufwirft.

 Marx sagte einmal über Deutschland zur Mitte des 19 Jahrhunderts, daß die Sache der Revolution abhinge von einer Neuauflage des großen Bauernkrieges 1522-25 in Deutschland, die sich mit der proletarischen Revolution verbinden müsse. Mariátegui versuchte durchaus ebenfalls, die alte Geschichte und das koloniale frühe republikanische Südamerika in die neue revolutionäre Entwicklung mit einzubeziehen. Und so versuchte er das gesellschaftliche Gesamtbewußtsein, einen Zusammenhang der ganzen Gesellschaft, zu wecken. Dabei blieb er allerdings nicht ohne wesentliche Fehler. Um es ganz deutlich zu sagen: wir halten eine unmißverständliche Kritik falscher und sogar ausgesprochen gefährlicher Seiten der Anschauungen Mariáteguis für unabdingbar.
 

Mariategui wurde vom Vorsitzenden der PCP Gonzalo insbesondere auch als ein Anhänger der revolutionären Gewalt verteidigt. Er wandte sich insbesondere gegen jenen "mediokren Reformismus", wie er sich ausdrückte, der in heuchlerischer Weise das parlamentarische System feiert, in dem in Wirklichkeit die Diktatur der ausbeutenden Klassen, ja sogar der reaktionärsten Kompradorenbourgeoisie gedeckt und praktiziert wird, bei dem in Wirklichkeit der Terror gegenüber den Massen existiert, bei heuchlerischer Phrase von Menschlichkeit und Menschenrechten nach außen hin. Tatsächlich ist dieses Element bei Mariátegui auch enthalten. Wir werden darauf allerdings im weiteren noch zu sprechen kommen. Fundamental allerdings bleibt die erste Frage: welchem gesellschaftlichen Gehalt, welcher Klasse ist die Gewalt dienlich, was ist ihr gesellschaftlicher Charakter. Davon müssen wir hier handeln.
 
 

Bei unseren Kritikpunkten haben wir im wesentlichen die folgenden im Auge:

Zum ersten das Verhältnis zur früheren amerikanischen, inkaischen Gesellschaft, das erheblich von Einseitigkeit und unkritischer Einstellung geprägt ist, eine Stellung, die offenbar auch in anderer indigener Literatur verbreitet ist.
Wenn er die frühere inkaische Gesellschaft behandelte, dann müssen wir überlegen, in welcher Weise er das richtig tat. Wenn wir aus den alten urkommunistischen Verhältnissen der Vergangenheit schöpfen, so muß man sich auch einmal die höchst negativen Seiten, die diese alten amerikanischen Gesellschaften hatten, ansehen.

Dann gibt es bei Mariátegui weiter einen deutlichen Punkt, der das Verhältnis zur Religion und zwar insbesondere der katholischen betrifft, wo einiges zu hinterfragen ist.

Mariátegui beruft sich in seiner Analyse des öfteren sogar auf Leute wie Georges Sorel, den Lenin zu recht als Fideisten und völlige Chaoten und Wirrkopf bezeichnete. Mariátegui versucht aber gerade diesen Idealisten mit in sein Gebäude aufzunehmen und nimmt Elemente von ihm auf. Ebenso ist seine Stellung zur Religion und zu den Jesuiten in Südamerika unklar. Gonzalo irrt, wenn er Mariátegui als einen "thorough Marxisten-Leninisten" bezeichnet, denn es gibt bei ihm Elemente, die mit dem Marxismus unverträglich sind. Es gibt Elemente des Idealismus bei Mariategui.

 

Schließlich werden wir weiter resümieren :

Bei Mariátegui gibt es ein erkenntnistheoretisches Phänomen, das offensichtlich auf dem ganzen amerikanischen Kontinent verbreitet ist, das sich dem Pragmatismus annähert und das mit dem Materialismus und der materialistischen Erkenntnis seine Schwierigkeiten hat. Der Pragmatismus, das Sich Konstruieren einer Wirklichkeit, ist etwas prinzipiell anderes als die Anerkennung einer materiellen vorhandenen Wirklichkeit, der wir uns durch den Erkenntnisprozeß annähern. Auf diese Schwäche gilt es grundsätzlich hinzuweisen. Der Pragmatismus ist etwas grundsätzlich anderes als der Materialismus, obwohl beide sich auch auf die Praxis und auf die Erfahrung berufen. Der prinzipielle Ansatz in der ganzen Denkweise spielt hier hinein.

 
 

 

II.   Über die inkaische Gesellschaft

 

Gehen wir nun aber zu den konkreten Punkten über. In seiner bekanntesten Schrift, "Sieben Versuche die peruanische Wirklichkeit zu verstehen" schreibt Mariátegui in dem Teil über die wirtschaftliche Politik ganz zu Anfang das folgende:

"Bis zur Konquista entwickelte sich in Peru eine Wirtschaft, die sich aus eigenem Antrieb und frei aus dem Boden und den Menschen Perus herausbildete. Im Inkareich, jenem Zusammenschluß landwirtschaftlicher und seßhafter Kommunen, war das Interessanteste die Wirtschaft. Alle historischen Zeugnisse stimmen in der Aussage überein, daß das Volk der Inkas - arbeitsam, diszipliniert, pantheistisch und einfach - in materiellem Wohlstand lebte. Es gab Lebensmittel in Hülle und Fülle; die Bevölkerung wuchs. Das Problem von Malthus war dem Reich völlig unbekannt. Die kollektivistische Organisation, die von den Inkas geleitet wurde, hatte in den Indios den individuellen Antrieb geschwächt; aber sie hatte in ihnen, zum Nutzen dieses Wirtschaftssystems, die Eigenart eines bescheidenen und religiösen Gehorsams ihrer sozialen Pflicht gegenüber ganz außerordentlich entwickelt. Die Inkas zogen jeden möglichen sozialen Nutzen aus dieser Tugend ihres Volkes, sie steigerten den Wert des weiten Reichsgebietes, indem sie Straßen, Kanäle usw. bauten, sie dehnten es aus, indem sie Nachbarstämme ihrer Autorität unterwarfen. Die kollektive Arbeit, das gemeinsame Bemühen wirkten sich fruchtbar auf soziale Ziele aus." (S. 17) Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen, Ausg. Argument/Edition Exodus, Berlin (West)/Freiburg(Schweiz), 1986, Aus dem Kapitel: Abriß der wirtschaftlichen Entwicklung,

 

Dieses Zitat, das sinngemäß in verschiedenen Formen in Mariáteguis Werk wiederholt wird, berührt einen Kernpunkt der historischen und kulturellen Anschauungen Mariáteguis, die Darstellung der Inkagesellschaft als eine harmonische Gesellschaft von der Masse des Volkes bis zu Inkaaristokratie.

 In den Andengebieten, in denen später das Inkareich errichtet wurde existierten die Dorfgemeinden, die Ayllus, mit ihren Kanalbauten, ihren Terrassen und ihrem entwickelten Landbau schon lange bevor die Inkas ihre Herrschaft errichteten. Diese Dorfgemeinschaften hatten schon eine viele Jahrhunderte alte Geschichte. Die Kultur dieser andinen Menschen zeichnete sich durch eine tiefe Verbundenheit mit dem Boden aus und hatte hervorragende landwirtschaftliche Ergebnisse gezeitigt. Sehr bezeichnend hatte sich diese Kultur im Andenplateau entwickelt und nicht in den Küstenoasen oder etwa im tropischen Regenwald. Die Menschen setzten sich mit den harten Naturbedingungen auseinander, und ihre Kultur stand schließlich höher als die der Bewohner an den Flußmündungen. (Die meeresklimatischen Verhältnisse an der Westküste Südamerikas bedingen Wüsten am Küstenstreifen, die von Oasen an den Flußmündungen unterbrochen sind.) Diese Dorfgemeinschaften, die eine Flurorganisation hatten, die der altdeutschen Mark und der slawischen Obschtschina ähnlich ist und, wie schon Engels bemerkt, erstaunlicherweise auch die Bezeichnung "Marca" trägt, brachte auch schon vor den Inkas Frühformen staatlicher Organisation hervor. Auch vermutet die Geschichtsforschung schon die Entwicklung eines größeren Handels und möglicherweise von Vorformen des Geldes.

 Die Inkas waren ein Stamm, sehr wahrscheinlich aus dem Gebiet des heutigen Titicacasees, der die in sich zerstrittenen zahlreichen Dorfgemeinschaften, die Ayllus, und die Zentren unter ihre militärische Oberhoheit brachte. Zuerst eroberten sie das Gebiet um Cuszco, in dem sie mit List und Gewalt die örtlichen Gewalten überwanden. Von da aus konnten sie immer größere Gebiete einnehmen. Nach ca. 300 Jahren hatte dieser Staat die Größe eines wirklichen Großreiches eingenommen, das sich von dem heutigen Ecuador bis weit in das südliche Andengebiet und sogar, wie einige Historiker behaupten, bis in das La Plata Gebiet erstreckte. Dieses Gemeinwesen hatte die Bezeichnung "Tawantinsuyo". Die Staatskonzeption, zugleich die große historische Leistung dieses Reiches, lag in der überregionalen Zentralisation der Kräfte der einzelnen, in sich zerstrittenen indianischen Gemeinschaften, in der zumindest teilweise erreichten sprachlichen Vereinheitlichung, der Einbeziehung von rückständigen Gebieten, die auf das Niveau der damals höherstehenden Gebiete gebracht wurden. Das allerdings ging nicht ohne die Herausbildung einer Klassengesellschaft ab. Mit der Errichtung ihrer Herrschaft wurden die Ayllus verpflichtet, bis zu 2/3 ihres Bodens im Interesse des Inkas (ca.1/3) und der Theokratie (eine weiteres Drittel) zu bebauen. Es wurde ein Tributsystem geschaffen, das widerspruchslos hingenommen werden mußte. Der Reichtum konzentrierte sich auf den Inka und die ihn umgebenden Günstlinge, die militärbürokratische Schicht und die Theokratie (allesamt Angehörige des Inkastammes).
Die gesellschaftliche Realität dieses Staates war keineswegs bloß eine Idylle und Harmonie.

 Der Inka konzentrierte einen unfaßbaren Reichtum, der bis zur Anlage von ganzen Gärten, in denen alles aus Gold nachgeformt wurde, führte. Er hatte kostbare Gewänder, Lebensmittel in der Tat in Hülle und Fülle. Dagegen sah das Leben eines einfachen Dorfgenossenschaftsbauern, der den Tribut leistete, alles andere als reichhaltig aus. Er schuftete praktisch sein Leben lang, immer in der Enge dieses Ayllus, und was seinen materiellen Wohlstand anging, so war er in der Tat sehr bescheiden. Was man in Rechnung stellen kann, ist die soziale Sicherheit, in der er lebte, aber die wurde ihm von der indianischen Gemeinschaft, in der lebte, gegeben und nicht primär von dem Inkasystem, das selbst auf der Grundlage dieser Gemeinschaften existierte.

 Es gab das "Mita"-System, das war die Zwangsverpflichtung der Ayllu-Bewohner zu großen Arbeiten in Bergwerken, beim Straßen- und Festungsbau. Die Spanier konnten im übrigen nach ihrer Eroberung um 1530 gleich an dieses System anknüpfen, sie selbst setzten sich an die Stelle der Inkas. Unter den Inkas gab es den Status der "Yanaconas", der zumindest dem Sklavenstatus der alten Reiche im mediterranen Bereich ähnlich sah. Viele der Erscheinungen des Inkareiches findet man auch bei anderen Frühreichen, die Herausbildung von Sklaverei und Tributsystem sind für diese historische Stufe nicht ungewöhnlich und auch von daher nicht zu verurteilen, wenngleich dieses System auch noch eine Reihe Besonderheiten aufweist. Dieses aber als kommunistische Idylle zu beschreiben, markiert eine - gelinde gesagt - romantische Verblendung, die nicht widerspruchslos hingenommen werden kann. Es ist klar, daß eine solche Stellung zur eigenen Geschichte auch in die heutige Politik hineinwirken muß, wie alle kulturellen Faktoren von politischem Belang sind.

 Das Land kannte auch Aufstände, die von dem Inka blutig unterdrückt wurden. Man darf nicht vergessen, daß auch das System der Inka ein System des barbarischen Menschenopfers war, das man nicht allein mit religiöser Inbrunst abtun kann, sondern das auch bereits ein Mittel der Unterdrückung war. Ein weiterer auffälliger Punkt war die zwangsweise Rekrutierung von jungen Frauen aus den Ayllus und eroberten Städten für verschiedene Funktionen des Inkasystems. Sie führten zu einer besonderen Abneigung gegen das Inkasystem. Diese Mädchen wurden sowohl als "heilige Frauen" der Sonne (Symbol für den obersten Gott), als auch als Arbeitskräfte, als auch als zahlreiche Beischläferinnen der Oberkasten rekrutiert.

 Was das Menschenopfer angeht, es hatte nach verschiedenen Darstellungen zu gewissen "festlichen" Anlässen die Größenordnung von mehreren hundert Kindern, so ist nicht klar, inwieweit dieses speziell von dem Inkasystem eingeführt wurde. Einige der Vorgängerstaaten der Inkas kannten das Menschenopfer in großem Ausmaß, z.B. Chimu (ein Reich an der Küste), und es spricht einiges dafür daß es bei den Inkas im Vergleich zu anderen abgemildert war. Ganz sicher ist die Zahl der Opfer im Vergleich etwa zu den Kulturen der Azteken und Mayas in Mittelamerika eingegrenzt. Es ist bemerkenswert, daß z.B. auch in China ein langer Kampf während des letzten Jahrtausends vor dem Jahre 0 stattfand, um die vorher groß angelegten Menschenopfer, hunderte bei sogenannten Grabbeigaben, zu beenden.
Es ist keineswegs sicher, ob die Ayllus im zentralandischen Hochland diese Menschenopfer, zumal in dieser Zahl, kannten. Wichtig ist, daß man so ein Reich der Frühzeit nicht idealisieren oder verniedlichen darf. Das ist ein ganz gefährlicher Irrtum und ein abgeschmacktes Unterfangen.

 Dieses Menschenopfer bedeutete mit zunehmender Entwicklung eine ungeheure Erniedrigung für die Menschen. Es ist überliefert daß das Hergeben einer Tochter für das Opfer für die Bevorrechtigung bei der Beamtenlaufbahn sorgte. Es war ein Terrormittel, mit dem diese Herrschaft zusammengehalten wurde. Zusätzlich noch neben der Gewalt, die zur Unterdrückung Aufsässiger ausgeübt wurde

 Es ist angesichts all dieser Tatsachen abwegig, den Inka-Frühstaat als kommunistisch zu bezeichnen, wie Mariátegui das tut. Mit einigem Recht kann man die Dorfgenossenschaft als agrarkommunistisch bezeichnen, aber diese ist nur die produktive Einheit, sie ist nicht identisch mit dem Inkasystem. Das ganze erinnert ein wenig an Alexander Herzen, der den Zarismus zuweilen verniedlichte und das Bild über die russische Dorfgemeinden schönte und als schon vorhandenen "Kommunismus" bezeichnete. Aber Alexander Herzen ist noch ungemein kritischer gegenüber den russischen Zuständen als etwa Mariátegui gegenüber den altperuanischen.
Schließlich zeigen die unbarmherzigen blutigen Gemetzel der Inkas untereinander selbst, daß es sich hier nicht um eine "harmonische" kommunistische Gesellschaft handelt, sondern um in Entwicklung befindliche aus der Barbarei kommende Sklavenhalterei und Feudalismus. Man lese einmal, was die Anhänger des Atahualpa (letzter Inka, Herrscher des Nordens) in dem inkaischen Bürgerkrieg mit den Anhängern und auch nur mit dem unbeteiligten Gefolge des Huasker machten. Hierüber schreibt selbst der berühmte Inkabiograph Garcilaso de la Vega, der aus dem Inkahause selbst abstammte.

 

 

 

III.   Über den Katholizismus und das Jesuitentum

 

 Mariátegui macht einen unverkennbar starken Rückgriff auf die Religion, nicht nur die Religion des Tawantinsuyu sondern auch des Katholizismus und seine besonderen Formationen wie den Jesuitismus.
Die Rolle Lateinamerikas für diese größte Religionsgemeinschaft, die seit zweitausend Jahren existiert, ist dadurch geprägt, daß es einen besonderen Stützpfeiler, ja sogar den Boden für ein Neuaufleben dieser Kirche in den vergangenen Jahrhunderten bildete. Als diese Religion auf dem lateinamerikanischen Kontinent fußfaßte, sah sie sich zugleich in Europa durch die Reformation heftigen Angriffen ausgesetzt. Auf ihrem alten Territorium schwer angeschlagen, fand sie durch die neuen Entdeckungen hier ein Areal, in dem sie sich erneut ausbreitete, in dem sie erneut Kraft schöpfte und sich bis zu einem gewissen Grade erneuerte.
Diese Religion, die das alte Opfer durch das Opfer des Einzigen ersetzt, die zuweilen zumindest die universale Milde predigt, mit ihren prächtigen Liturgien, war sehr gut geschaffen, sich auf dem Boden der Barbarei durchzusetzen wie eintausend Jahre zuvor auf dem europäischen Kontinent selbst. Nicht zufällig und zu Recht betont der Papst heute, daß Lateinamerika der bedeutendste katholische Erdteil ist, eine Grundstütze der Existenz der Kirche. Sie überlagerte zu einem Teil die alten indianischen Religionen, wie etwa die inkaische. Hier konnte sie noch einmal eine dynamische Rolle spielen, die sie auf dem alten Kontinent schon längst verloren hatte.
In einigen Fällen verteidigten katholische Priester und Mönche die Indianer gegen eine regelrechte Vernichtungs- und Vernutzungspolitik der iberischen Kolonialmächte, setzten eine Mäßigung der Politik durch. Immer wieder wird das Beispiel des Dominikanerpriesters de las Casas erwähnt. Jedoch war dies die Ausnahme. Man kann sagen, daß der Katholizismus mit größter Entschiedenheit die Herrschaft der Kolonialmächte, aber nicht nur diese, sondern auch alle rückständigen gesellschaftlichen Formen verteidigte, wobei gerade und insbesondere die Jesuiten gar keine Ausnahme machen.

Eine Kritik am Katholizismus ist deshalb unabdingbar für jeden Revolutionär in Amerika. Die tiefe Verankerung dieser Religion unter den Menschen macht gerade auch die Verbindungen mit den früheren Religionen deutlich, von denen Glaubenselemente offen oder indirekt in den offiziellen lateinamerikanischen Katholizismus eingebaut worden sind, so daß es um eine tiefe Auseinandersetzung mit der Religion keinerlei Umgehung geben kann.

Insbesondere ist es bedenklich, wenn Mariátegui den Jesuitismus als beispielhaften, fruchtbaren Kolonisator auf dem lateinamerikanischen Kontinent herausstellt. Dieses Merkmal gibt es nicht ausschließlich bei ihm, es gibt viele aufgeklärte Schriftsteller und auch Revolutionäre in Lateinamerika, die dies tun. Obwohl es ein Thema für eine umfassende Arbeit ist, kommen wir nicht darum herum, hier einige "Highlights" zu erwähnen.

Der Jesuitenorden wurde gegründet, als der Katholizismus sich in Europa in Bedrängnis befand, nicht nur durch den "reformierten" Glauben, sondern auch durch das Wachsen des Wissens der Menschen, durch die Entwicklung der Naturwissenschaften, und der Geographie. Allein die Großen Meeresüberquerungen und Entdeckungen selbst widerlegten das vorher favorisierte, allerdings auch schon vorher mit Gewalt durchgesetzte Weltbild. Jesuiten sollten sich selbst mit an die Spitze der Entwicklung dieser neuen Kenntnisse stellen und zugleich diese mit allen Mitteln bekämpfen. Jesuiten gingen alsbald, im Unterschied zu ihren lutherischen Konkurrenten, in die ganze Welt hinaus, fingen Diskussionen mit allen wissenschaftlichen Schulen an, suchten die Konfrontation. Gleichzeitig aber waren die Kontinente, die sie neu betraten, die Seewege, die um die Erde herumführten nach ihrer Doktrin nicht vorhanden
 

Die Jesuiten waren von Anfang an "universal" d.h. internationalistisch organisiert, rekrutierten ihre Aktivisten aus allen europäischen Ländern und waren mit dem habsburgischen Hause, das auch über Spanien und Teile Italiens verfügte, verbunden. Sie hatten von daher die Möglichkeit, sich in die neu entdeckten Gebiete zu verstreuen. Dies war ihre starke Seite, aber zugleich auf einer Grundlage der Widerspenstigkeit gegenüber der Realität. Im Unterschied zu den Protestanten waren die Jesuiten von Anfang an auf die Arbeit in der ganzen neu entstehenden kolonialen Welt, vor allem Spaniens und Portugals, und darüber hinaus an Punkten, die vorher noch niemals eine christliche Macht betreten hatte, ausgerichtet. Sie schickten Kolonisatoren nach Lateinamerika, nach Indien und sogar nach China und in den Fernen Osten und lernten dort neue Kulturen kennen. Mit dieser neuen "Allseitigkeit" traten sie den zumeist beschränkten und bodenständig verankerten Reformatoren in Mitteleuropa entgegen.
Die Bekämpfung der Wissenschaft, der materialistischen Denkweise, die Verteidigung des katholischen Obskurantismus war ihre zentrale Aufgabe.
Ihre Verteidigung mußte so weit gehen, daß sie sich selber als Verteidiger der Wissenschaften aufspielten, sonst hätten sie eine ohnmächtige Propaganda betrieben, so konnten sie wenigstens einen aufschiebenden Effekt erreichen. Sie bekamen von der katholischen Kirche die Genehmigung, im Unterschied zu anderen Orden mit allen Kräften auch des Gegners in Verbindung zu treten und dort zu disputieren, um auf diese Weise in den Gegner hinein zu horchen und noch größere Anpassungsfähigkeit zu erreichen. Als Grundprinzip können wir festhalten, was Ignatius von Loyola seinen Jüngern aufgab. Man lese den für sich sprechenden Leitsatz aus den "Regeln über die kirchliche Gesinnung" der Jesuiten, der dieser Rolle entspricht:
 

(Punkt 13:)

" Wir müssen, um in allem sicher zu gehen, stets festhalten: was meinen Augen weiß erscheint, halte ich für schwarz, wenn die hierarchische Kirche so entscheidet, überzeugt, daß zwischen Christus unserem Herrn, dem Bräutigam, und der Kirche, seiner Braut, derselbe Geist waltet, der uns zum Heile unserer Seelen leitet und lenkt; denn durch denselben Geist und unseren Herrn, der die zehn Gebote gab, wird auch unseren heilige Mutter, die Kirche, gelenkt und geleitet.

(zitiert hier nach "2000 Jahre Christentum", S.466, "Geistliche Übungen",

"Das Zeitalter der Reformation")
 

Dieser schon oft den Jesuiten entgegengehaltene Leitsatz, zeigt das ganz Extreme ihrer Auffassungen, ihren Spagat, ja mehr noch ihre offiziell verordnete institutionalisierte Selbstbelügung und Belügung anderer.
Dieses Gebot eines wirklichen geistigen Kadavergehorsams ist das zentrale Kettenglied der Denkweise der Jesuiten und es entlarvt ihren manchmal so vorgetragenen wissenschaftlichen Anspruch.
Und die gleiche Ideologie waltet auch bei ihren politischen Vorgehensweisen. Die Jesuiten schufen scheinbar auch im Kontrast zur brutalen Ausrottungs- und Vernutzungspolitik, wie sie die spanische Konquistadoren und nachmaligen Feudalherren betrieben, eine Politik, bei der sie scheinbar an den elementaren urgemeinschaftlichen und dorfgemeinschaftlichen Bestrebungen der indianischen Urbevölkerung anknüpften. Sie schufen die "Indianerreduktionen", kleine staatsähnliche Gebilde, in denen sie bestimmte Indianerstämme, die sich ihnen fügten, ihrem Niveau gemäß organisierten, und in denen die Jesuiten pädagogisch auf sie einwirkten. Sie faßten sie so unter ihrer Kontrolle zusammen, und lehrten sie elementare Handwerkskenntnisse, hielten sie zugleich aber auf einem ganz primitiven Level fest. Sie gingen also im Kontrast zum gewalttätigen, sklavenhalterischen Vorgehen anderer Kolonisten vor, verhinderten aber zugleich die Weiterentwicklung. Nach Ansicht einiger den Jesuiten nahestehender Theoretiker ist es sogar so, daß sie die inkaische Gesellschaft für die Struktur ihrer theokratischen "Reduktionen" in Paraguay zum Vorbild nahmen, die Mariátegui so positiv erwähnt.
 

Dieses "gute Regime" beschränkte sich obendrein auf bestimmte Indianerstämme, die mit ihnen in dieser Weise kooperierten. Die Stellung zu anderen Stämmen, die sich ihnen nicht fügten, ist nicht viel anders als die der Kolonisatoren zu den Indianern.
Auch waren die Jesuiten nicht prinzipiell gegen die Sklavenhalterei. Sie beschützten die Indianer in ihren Reduktionen und haben diese in der Frühzeit gegenüber den "Paulistanern", das sind portugiesische und mestizische Sklavenjäger, bewaffnet. Das Verbot der Sklaverei, das der spanische Staat auf Betreiben der katholischen Kirche verfügt hatte, galt nur für die Indianer. Gegen die Versklavung der Schwarzen aus Afrika und ihre Verwendung als Arbeitskräfte in Amerika traten die katholische Kirche und die Jesuiten nicht auf. Diese Sklaverei wurde durchaus akzeptiert.
Sie, die Jesuiten, vertraten ein ganz bestimmtes Konzept mit "ihren" Indianern. Etwas satt machen, und eine Weiterentwicklung verhindern war das Konzept dieser Reduktionen, die allerdings auch eine bestimmte Verwahrlosung und Verrohung verhinderten und von daher gewisse positive Seiten gerade im Kontrast mit der brutalsten Feudalen und sklavenmäßigen Ausbeutung hatten.

 

Die Jesuiten rekrutierten noch nicht einmal neue Pfarrer aus der indianischen Bevölkerung, die ihnen unterstand. Die intellektuelle Weiterentwicklung wurde abgelehnt. Die Vermittlung von Sprachkenntnissen wurde abgelehnt, die Indianer durften kein Spanisch oder Portugiesisch sprechen, damit keine Verbindung mit anderen Spaniern oder Portugiesen entstehen konnte. Und sie nutzten diese Reduktionen dazu, sich Reichtümer zu beschaffen und von der Basis der Reduktionen aus den Jesuitenorden weltweit auch materiell auszustatten. Denn im Laufe der Zeit wurden in den verschiedenen Reduktionen beträchtliche Reichtümer geschaffen.

De facto war die paraguayische Kolonisation, die auch in Peru ihre Pendants hatte, eine Art Stützpunkt, mit der sie ihre oben geschilderte letztlich konterrevolutionäre, gegenreformatorische Tätigkeit mit einer gewissen Basis ausstatteten. Dies aber kann man bei der Einschätzung der Aktivitäten der Jesuiten in Lateinamerika nicht vergessen und darüber lesen wir bei Mariátegui, der sonst eine hohes intellektuelles Niveau aufweist, nichts.
 

Was lesen wir denn bei Mariategui:

"Die einzigen Truppen von wirklichen Kolonisatoren, die uns Spanien sandte, waren die Jesuiten und die Dominikaner. Beide Orden, vor allem die Jesuiten, schufen in Peru verschiedene wichtige Produktionszentren. Die Jesuiten verbanden bei ihrem Unternehmen religiöse, politische und ökonomische Faktoren, zwar nicht im gleichen Maße wie in Paraguay, wo sie ihr berühmtes ausgedehntes Experiment begannen, aber durchaus von den gleichen Prinzipien ausgehend."
( Seite 58f )
oder: Sie schufen aber vielmehr ein theokratisches System mit der Grundlage der elementaren Stammes- und Dorfkultur, was noch einen erheblichen Unterschied etwa zur Feudalismus des europäischen Mittelalters ist, der zahlreiche in sich weitertreibende Widersprüche (Handel, Städte Konkurrenz der Dynastien, festgeschriebene Rechte) beinhaltete, und nicht nur Theokratie.

Dies sind doch sehr bemerkenswerte Aussagen zur Rolle der katholischen Kirche und den Jesuiten. Ausführlich geht Mariátegui darauf in dem Kapitel Der religiöse Faktor ein.
 

Die gleiche Stellung zum Idealismus wird unmittelbar an einem weiteren Punkt deutlich: An der Stellung zu Georges Sorel, der bei Mariategui in seinem Hauptwerk mehrfach als anerkannter Ideologe und Ökonom neben Marx zitiert wird.
Über Sorel wurde in der früheren Arbeiterbewegung 1900 bis 1922 schon bereits viel geschrieben, er gehörte zu den Führern des Anarchosyndikalismus in Frankreich. Damit hat es aber noch keineswegs sein Bewenden. Lenin bezeichnete in seiner berühmten Schrift "Materialismus und Empiriokritizismus" diesen Ideologen und politischen Journalisten als einen Wirrkopf. Diese Kennzeichnung reicht aber noch nicht aus, das ganze Ausmaß der reaktionären Abgründe dieses Mannes zu beschreiben. Sorel übte eine Kritik am damals aufkommenden Reformismus. Aber unter welchem Vorzeichen tat er dies! Er kritisierte diesen, indem er vornehmlich die alte Gesellschaft von vor 1789 verherrlichte, indem er die Kräfte des Monarchismus, des Mythentums und ähnliche versuchte gegen die moderne Gesellschaft auszuspielen. Auch er näherte sich dem Katholizismus an, oder besser trennte sich gar nicht erst von ihm. In Schriften wie "La décomposition du Marxisme" greift er die Substanz der politischen Lehre von Marx radikal an. Sorel knüpfte an die Philosophie von Henri Bergson an.
Die Kritik am Reformismus der Sozialisten, an der Teilnahme an Parlamenten, der opportunistischen Verschmelzung mit der Bourgeoisie war für ihn ein Vorwand, die reaktionären Kräfte der Vergangenheit hervorzuheben. Auch Sorel repräsentiert den zerfallenden Katholizismus. Nach der Dreyfus Affäre, nach der Entlarvung der neoklerikalen Kräfte und dem Zusammenbruch der mit dem Dreyfus Prozeß verbundenen Provokation, kamen in Frankreich mit der von Maurras gegründeten "Aktion francaise" die ersten Formen des Faschismus auf. Mit diesen Leuten, d.h. Faschisten setzte sich Sorel 1906 an einen Tisch und arbeitete mit ihnen zusammen. Dies war nicht ganz zufällig, denn in seinen Anschauungen taucht die blanke Kriegsverherrlichung - ohne nach dem Sinn des Krieges zu fragen - auf. Krieg als ein Mittel eine angeblich erschlaffende Gesellschaft zu erneuern! Es tauchten Elemente auf, die unmittelbar in die kommende Zeit einflossen. Die Massaker des 1. Weltkrieges gingen ihm dann zu weit, davon distanzierte sich dieser "Kriegsromantiker". Es bleibt aber trotzdem, daß er an der Vorbereitung des Krieges beteiligt war.
Im Nachhinein pries er, der geistige Promotor des italienischen Faschismus, gleichzeitig die Leninsche Revolution, aber nur auf Rußland beschränkt, immer den Nationalismus fördernd, immer die Revolution in den verschiedenen Ländern spaltend.

 

Wir lesen nun bei Mariátegui:

"Das rationalistische Denken des 19. Jahrhunderts versuchte, die Religion in Philosophie aufzulösen. Der Pragmatismus hingegen wußte in realistischerer Weise, dem religiösen Denken einen Stellenwert zuzuerkennen, den ihm endgültig genommen zu haben, sich in eitler Weise die Philosophie des 18 Jahrhunderts eingebildet hatte. Übrigens hat, wie schon Sorel ankündigte, die historische Erfahrung der letzten fünf Jahre bewiesen, daß die aktuellen revolutionären oder sozialen Mythen das Unterbewußtsein der Menschen in gleichem Ausmaß besetzen können wie die antiken religiösen Mythen." !!!   ( S.166 ) Der Pragmatismus aber ist eine Form des Fideismus, die gerade auf dem amerikanischen Kontinent eine sehr starke Verbreitung hat. Der Pragmatismus hat ebenso wie der Marxismus eine hohe Einschätzung von der Praxis, der Unterschied liegt aber gerade darin, daß der Pragmatismus das Vorhandensein einer objektiven Wahrheit, von Fakten, von Zusammenhängen, denen sich unser Denken annähert, leugnet. An die Stelle der komplexen Wirklichkeit, der Materie und der materiellen Zusammenhänge setzt der Pragmatismus Gott oder etwas Mystisches. Lenin hat gerade den Pragmatismus kritisiert in seinem fundamentalen erkenntnistheoretischen Werk. Die bei Mariátegui liegende polemische Spitze richtet sich gegen den philosophischen Materialismus, gegen den Marxismus selbst. Und die Behauptung von Sorel über die Mythen ist in der Weise, wie sie hier erfolgt, Unsinn. Natürlich bilden sich Mythen heraus, weil es Unwissenheit unter den Menschen gibt und weil große revolutionäre Kämpfe auch große Gemütsaufwallungen hervorbringen. Hier aber wird revolutionäre Leidenschaft, die auf einer Einheit von Gefühl und Ratio beruht, mit antiken obskuren Mythen gleichgesetzt. Das ist Unsinn und eine Beleidigung der Revolution.
Diese Mythen mit antiken religiösen Mythen zu vergleichen, ist aber etwas ganz anderes, gehört zu einer ganz anderen Linie. Sorel gehört zu denjenigen Reaktionären, die zu Ende des letzten, Anfang dieses Jahrhunderts, wie gewisse ganz Rechte neue Mythen als unausweichliche Bestandteile einer von ihnen als notwendig erachteten irrationalen Anschauung konstruieren wollten.
 

Auch wir arbeiten an einer gewissen Grundlagenkritik, kritisieren eine gewisse Abstraktheit des Marxismus, deshalb aber fangen wir noch lange nicht an, gewisse Kulte der Arbeiterbewegung, sagen wir auch gewisse Entgleisungen, wie Personenkulte, mit den antiken Mythen gleichzusetzen und sie als notwendigen Bestandteil der Gesellschaft herauszustellen. Es ist eine Erfindung der ganz Rechten, wie des faschistischen Ideologen Alfred Rosenberg, daß für das zwanzigste Jahrhundert ein "Mythos" zu konstruieren sei, daß die Gesellschaft ohne dies nicht existieren kann und daß dieser idealistische Mythos letztlich als Leitfaden für die Gesellschaft der Faschisten existiert.

 

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Es ist nicht zu bestreiten, daß es in der Analyse von Mariátegui sehr wertvolle Ansätze gibt, die heute noch interessant sind und die seine große Gemeinsamkeit mit den bedeutendsten sozialistischen Theoretikern beweisen, trotz seiner Annäherung an die Religion. Mariátegui ist bemüht, die stagnative Entwicklung Lateinamerikas zu erklären:

"Der Spanier besaß die für die Kolonisation notwendigen Eigenschaften nicht in dem Maße wie der Angelsachse. Die Schaffung der Vereinigten Staaten von Nordamerika ist das Werk des pioneer. Spanien schickte uns nach dem Epos der Konquista fast nur noch Adelige, Priester und Stadtbewohner.....

Der Kolonisator, der sich statt auf dem Lande in den Bergbaugebieten niederließ, hatte die Psychologie des Goldsuchers. Er schuf daher keinen Reichtum. Eine Ökonomie und eine Gesellschaft sind das Werk von Menschen, die das Land bebauen, aber nicht von solchen, die neu seine Bodensätze ausbeuten...." S.58, (Hervorhebung von mir, K.S.)
 

Das ist ein durchaus richtiger Grundsatz, der Mariátegui als einen Revolutionär, der aber nicht frei von religiösen Vorurteilen ist, ausweist.

Um die positive Einschätzung der Jesuiten zu erklären bezieht sich Mariátegui dann auf die Studie von Sorel.

"Georges Sorel ist einer der modernen Ökonomen, der in seiner Studie über den Benediktinerorden als Prototyp des "Kloster-Industrieunternehmers" die Rolle der Klöster in der europäischen Wirtschaft am besten erkannt und definiert hat. Sorel stell fest: "Kapital zu beschaffen, dies war ein in jener Zeit sehr schwierig zu lösendes Problem. Für die Mönche war es jedoch einfach....die ursprüngliche Akkumulation fiel ihnen leicht...."    Nach einiger Zeit habe diese vorantreibende Rolle aufgehört.
 
Mariátegui schreibt dazu:
  "Dieser Aspekt der Kolonisation ist wie viele andere unserer Ökonomie noch nicht untersucht worden. Ich als überzeugter Marxist mußte das feststellen. Ich halte eine solche Studie für fundamental wichtig, um Maßnahmen ökonomisch zu rechtfertigen, die in einer zukünftigen Agrarpolitik die Besitzungen der Klöster und Orden betreffen werden, denn sie wird schlüssig nachweisen, daß deren Herrschaft praktisch nicht mehr besteht und deshalb auch alle königlichen Urkunden, die sich auf ihre praktische Tätigkeit beziehen, ihre Gültigkeit verloren haben." ( S.59 )
 
Nachdem wir diese Ansichten Mariáteguis zu Sorel zur Kenntnis genommen haben und man hier tatsächlich einiges untersuchen sollte, müssen wir jetzt aber doch auf einige Punkte zurückkommen, die nun einmal ein Bestandteil der tatsächlichen weiteren Geschichte sind und die ein Resultat der neoreligiösen, fideistischen Philosophie sind, der auch Sorel anhängt, und das ist die Vorbereitung des Faschismus durch Sorel.

Sorel steht mit seiner Bezugnahme auf Bergson und sogar Nietzsche nicht allein. Gerade zu Beginn des Jahrhunderts arbeiteten zahlreiche bürgerliche Ideologen daran, die wissenschaftliche Naturanschauung mit allen Mitteln zu bekämpfen und eine Wiedereinführung des Fideismus durchzusetzen. Es ist eine zentrale Aufgabe revolutionärer und marxistischer Ideologie, diesen Strömungen des Irrationalismus und absichtlicher Verunstaltung materialistischer Erkenntnis den Kampf anzusagen.

So gibt es eine direkte Brücke zwischen dem Anarchosyndikalisten Georges Sorel und dem späteren Faschisten Mussolini, der der direkte Wegbereiter, das Vorbild von Hitler war. All die Dinge harren noch der Untersuchung. Kann denn Mariátegui Sorel als eine Autorität in Fragen der Ökonomie zitieren? Das möchten wir entschieden bezweifeln. Wir halten es für notwendig, daß diese Dinge hinterfragt werden.
Es gibt auch bezüglich des lateinamerikanischen Sozialismus Dinge, die geklärt werden müssen.

Man kann doch z.B. nicht übersehen daß Mussolini vorher ein bekannter, den sogenannten linken Flügel in Italien repräsentierender Sozialistenführer war, der später dem ganzen Faschismus in Europa als Steigbügelhalter diente und den ersten größeren faschistischen Staat im "modernen" Sinne schuf, der ein unmittelbarer Wegbereiter auch des Hitlerfaschismus in Deutschland war.

Hier schließt sich doch der Kreis.
Wir haben vorhin gesehen, wie Jesuiten alte Gesellschaften ausnutzten, um dies für äußerst reaktionäre Absichten zu benutzen. Diese grundsätzlichen historischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit Mariátegui stellen, sind auch Fragen, die zur jüngsten sozialistischen Geschichte, zum Sowjetrevisionismus und zu seinem Vorgehen in Lateinamerika gestellt werden müssen und die auch Parteien, die sich auf Mariátegui direkt berufen, angehen. Man muß fordern, daß auf diesem Gebiet Klärung erfolgt.
Der Zustand ist unakzeptierbar, man sieht daran, daß die internationale Bewegung eines Austauschs bedarf.
Die Stärke des Katholizismus und der Klerikalreaktion in Lateinamerika ist nicht zufällig und die Abstrahlung auf den Sozialismus auf diesem Kontinent ebenfalls nicht.
Wie sehr ist es notwendig, daß sich die Sozialisten und Marxisten und diejenigen, die für die kommende Zeit die Dinge weiterentwickeln, an einen Tisch setzen und sich über die Probleme aussprechen. Daraus können alle lernen.

Juni 1997

Copyright by Klaus Sender , Berlin, 1997