Internet Statement 5/99


Ist Bernstein´s Artikel ein marxistischer ?

An Chris Burford,

in diesem Posting möchte auf ihre Bermerkungen zu Bernstein´s Artikel zum "Wilde"-Fall eingehen. Ich weiß, daß es schon einige Zeit her ist, denke aber, daß die angesprochenen Fragen es wert sind, auch jetzt noch diskutiert zu werden.

Zu unserer Einleitung des Bernstein-Artikels schreiben sie (13.Dez 98):

"It is likely that he would have shown a copy of this article to Engels who did not die till August 5th 1895. It might even be that Bernstein was keen to show the article to his dying mentor. Neue Einheit‘s assumption that it is self-evidently revisionist is highly precarious."

Das ist reine Spekulation (zudem eine sehr unwahrscheinliche) und eine auf nichts gegründete Unterstellung gegen uns. Beweist doch Bernsteins Artikel zur Genüge die Ansichten und Absichten seines Verfassers, denen Engels niemals zugestimmt hätte. Wir werden das weiter unten sehen. Sie hingegen wollen gerade das nicht sehen, sondern schreiben:

"So thanks to Neue Einheit for much work on the translation. It might benefit by a little stylistic polishing but is very adequate for conveying the meaning. Which is that of a serious marxist, that is materialist, and dialectical, commentary on a matter of public controversy in 1895, and a widespread absence of basic bourgeois democratic rights for the great mass of the population in the most intimate areas of their lives, especially for working class women. I think it is now up to Neue Einheit to explain their concept of revisionism, which led them to spend so much time on a document that is a serious marxist one, whatever criticisms may be made of other work by Bernstein (which I would like to see)." (13.Dez 98) Das ist Unsinn. Bernstein´s Artikel ist in keinster Weise "a serious marxist one".

Wie argumentiert Bernstein in seinem Artikel?

Er wendet sich gegen den Begriff "widernatürlich" und will ihn durch den Begriff "widernormal" ersetzen und begründet das folgendermaßen:

"Denn was ist nicht alles widernatürlich? Unser ganzes Kulturleben, unsere Lebensführung vom Morgen bis Abend ist ein beständiger Verstoß gegen die Natur, gegen die ursprünglichen Voraussetzungen unseres Daseins. Käme es nur auf das Natürliche als den Maßstab an, so würde der ärgste geschlechtliche Exzeß nicht verwerflicher sein, als etwa das Schreiben eines Briefes, denn das Verkehren mit Anderen durch das geschriebene Wort ist eine weit größere Entfernung von der Natur, als irgend eine bis jetzt bekannte Form der Befriedigung des Geschlechtstriebs."

Sie selbst schreiben zu dieser Stelle:

"This is a materialist argument against the idealisation of Nature to embody current bourgeois prejudices as absolute eternal truths." Wie sie zu dieser Ansicht kommen, bleibt unergründlich. Für solche "materialist arguments" bedanken wir uns. Das ist was ganz anderes.

Diese Zeilen sind ungeheuerlich!! 

Damit diffamiert Bernstein die gesamte Menschheitsentwicklung, die ganze Kultur- und Zivilisationsentwicklung als naturwidrig. Seit der Überwindung der ominösen "original preconditions of our existence", so eine Art Bernsteinscher Sündenfall, habe sich der Mensch von der Natur weg entfernt, sei sozusagen aus ihr heraus getreten. Alles was die Menschen danach tun, jegliche Weiterentwicklung ist für ihn "permanent violation of nature". Das ist reaktionäre Zivilisationskritk, das ist schon direkte Zivilisationsfeindlichkeit. Welche Pervertierung des Naturbegriffs! Hier steckt im Keim die heutige reaktionäre ökologische Ideologie. 

Dies steht in diametralem Gegensatz zu allem, was Marx und Engels je über die Menschheitsentwicklung geschrieben haben und steht tiefunter dem Niveau selbst vieler bürgerlicher Autoren. 

Das Heraustreten der Menschen aus dem Tierreich, das über einen Zeitraum von Tausenden und abertausenden von Jahren vonstatten ging, ist keineswegs ein widernatürlicher Prozeß. Im Gegenteil, es liegt gerade in der Natur der Menschen - im Unterschied zu den Tieren - daß sie durch und in der Produktion ihres Lebensunterhalts lernen, die äußere Natur für ihre Bedürfnisse umzugestalten und damit sich auch selbst verändern und weiterentwickeln. Sie verhalten sich immer bewußter gegenüber der äußeren Natur und zu sich selbst und lernen mehr und mehr die Naturgesetze zu verstehen und ihr Handeln danach auszurichten. Gerade auch die Entwicklung der Schrift, die sich über Jahrtausende hinzog, ist ein Meilenstein in der menschlichen Entwicklung. Sie erst ermöglichte dauerhafte Überlieferung von Wissen über Generationen und Ländergrenzen hinweg und bildete damit wesentliche Basis für die Entwicklung der Wissenschaften und damit für die weitere Kultur- und Gesellschaftsentwicklung. 

Daß der Prozeß der Zivilisation sehr widersprüchlich verläuft, daß sich in ihrem Verlauf Unterdrückung und Ausbeutung entwickeln, daß Klassenherrschaften entstehen, ändert an ihrer progressiven Bedeutung gar nichts. Entwicklung vollzieht sich niemals widerspruchsfrei. Auch daß der Kapitalismus zu massivem Raubbau am Menschen und an der Natur in bis dahin ungekanntem Maße führte und führt, daß er z.B. im England des 19.Jahrhunderts die Arbeiterklasse physisch so ruinierte, daß der Staat sich gezwungen sah einzuschreiten, aus Sorge sonst keine tauglichen Soldaten zu bekommen, ist keineswegs ein Argument, die gesamte Kulturentwicklung zu diffamieren und als widernatürlich hinzustellen. [Allenfalls die Ausbeuter selbst, die um des Profites willen ungerührt über unzählige Leichen gehen, könnte man u.a. als widernatürlich bezeichnen. Dabei handeln sie jedoch nicht wider die Natur des Kapitalismus.]

Wie Bernstein nun auf die Idee kommt, losgelöst von jeglicher klassenmäßigen Analyse die ganze Menschheitsentwicklung als widernatürlich zu deklarieren, das ist eine wirklich interessante Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt.

Zurück zum Text.

Nachdem Bernstein also so das Kriterium der Natur durch seine absurde Verdrehung des Naturbegriffes ad acta gelegt hat,legt er nun das Kriterium der Normalität an: 

"Viel angemessener als die Bezeichnung widernatürlich erscheint uns daher das Wort widernormal. Der Begriff des Normalen schließt mit Bezug auf das vorstehende Thema soviel vom Begriff des Natürlichen oder Naturgemäßen ein, als die sachgemäße Betrachtung desselben erfordert, aber er ist biegsamer als jener, und sein Gebrauch entspricht mehr der Thatsache, daß die moralischen Anschauungen geschichtliche Erscheinungen sind, die nicht darnach sich richten, was etwa im Naturzustand war, sondern was auf einer gegebenen Entwicklungsstufe der Gesellschaft ist, für die das dieser Entsprechende das Normale ist. 

Damit steht durchaus nicht im Widerspruch, daß zu allen Zeiten diejenige Form der Bethätigung des Geschlechtslebens, die der Aufgabe der Fortpflanzung der Gattung entspricht, von den Menschen als die normale betrachtet wurde. Somit sind eben hierin die Menschen an das von Natur aus Gesetzte gebunden. Aber es hat Zeiten, Kulturzustände gegeben, wo jene Aufgabe für große Klassen der Bevölkerung nicht viel mehr war, als ein wesenloser Begriff, wo das von der Natur Gesetzte aufhörte, für sie die Norm zu sein, und soviel kann von der heutigen Kulturwelt gesagt werden, daß bei den meisten zu ihr gehörigen Nationen der sogenannte Begattungsakt in einer wachsenden Zahl von Fällen nicht nur nicht der Fortpflanzung der Rasse gilt, sondern vielmehr diese mit ihm verbundene Wirkung als eine sehr unerwünschte betrachtet und nach Möglichkeit verhindert wird. Formell wird die ursprüngliche Begattungsart als Norm festgehalten, thatsächlich ist der Geschlechtsverkehr reiner Genußakt, und weil von der Zeugung emanzipirt, in hohem Grade unnatürlich und selbst widernatürlich; aber Sitte und Recht fragen nicht darnach, sondern verfehmen bezw. bestrafen nur gewisse Arten des Geschlechtsverkehrs, bei denen auch der Schein der Verbindung behufs Fortpflanzung wegfällt—die eben nicht bloß widernatürlich, sondern auch widernormal , gegen die noch immer in der Fiktion festgehaltene Norm sind. Ist das aber ein aufrechtzuerhaltender Standpunkt?"

Hier wird zunächst der Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau rein auf die Funktion der Fortpflanzung reduziert. Nur dieser sei natürlich und normal. Sodann wird behauptet, daß in der heutigen Kulturwelt die Fortpflanzung aber immer mehr unerwünscht geworden sei. Tatsächlich sei nun der Geschlechtsverkehr reiner Genußakt geworden und durch die Emanzipation von der Fortpflanzung selbst widernatürlich geworden. Nur wegen dem Schein der Verbindung mit der Fortpflanzung gelte er aber noch als normal, als gesellschaftliche Norm und somit als nicht bestrafungswürdig. Andere Arten des Geschlechtsverkehrs, damit meint er vor allem die Homosexualität, würden aber nur deshalb verboten, nur deshalb als widernormal angesehen, weil die Gesellschaft weiterhin an der zur Fiktion gewordenen Norm (Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung gehöre zusammen) festhalte. 

Hier läßt Bernstein die Katze aus dem Sack. Seine ganze Konstruktion diente dazu, die Homosexualität als gleichwertige und gleichberechtigte Art der Sexualität hinzustellen. Seine Konstruktion ist so wackelig und abwegig, daß folgende Bemerkungen genügen werden. 

Die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau - die in der Natur des Menschen angelegt ist - darf und kann weder auf die Funktion der Fortpflanzung noch auf die der Genußbefriedigung reduziert werden, wie das Bernstein tut und wie es damals und heute, was den zweiten Punkt angeht, eine ganze Armada im Dienste der Bourgeoisie und Finanzoligarchie stehender Schreiberlinge und Medienvertreter so stark propagieren. 

In der Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht, im Bemühen einen Partner zu finden und die Beziehung zu pflegen, in der gemeinsamen Erziehung der Kinder eignen sich die Menschen Fähigkeiten an, die für ihre Weiterentwicklung als soziales Wesen von enormer Bedeutung sind. Im Verlaufe der Menschheitsentwicklung hat sich die Sexualität (zw. Mann und Frau) zu jener hohen Form der individual sex love entwickelt, die das Element der Liebe und das des Geliebtwerdens hineingetragen hat, die unersetzlicher Bestandteil für das Wohlergehen der einzelnen Individuen, für ihr Gefühlsleben wie auch des gesellschaftlichen Zusammenhalts geworden ist. Sie ist zum wesentlichen Bestandteil der Kultur geworden. Jeder weiß das aus eigener Erfahrung. (das ist das, was Engels im "Ursprung..." darlegt)

Daß für beide Seiten produktive, vorwärtsbringende Beziehungen nach wie vor oftmals an unüberwindlichen Hürden scheitern, daß heute eine so starke Vereinzelung in der Gesellschaft zu beobachten ist, ist den heutigen gesellschaftlichen Zuständen geschuldet. In der Sexualität, in den zwischenmenschlichen Beziehungen drücken sich eben auch die gesellschaftlichen Zustände aus, und so ist es im kapitalistischen System kein Zufall, daß die oberen Klassen und Schichten , die von den Profiten und den gigantischen Extraprofiten aus der internationalen Ausbeutung profitieren, ganz andere sittliche Maßstäbe und Verhaltensweisen an den Tag legen als die unterdrückten Klassen. Davon ist allerdings bei Bernstein nirgends die Rede. Nirgendwo greift er in diesem Artikel wirklich die gesellschaftlichen Zustände als Folge der kapitalistischen Ausbeutung an. Selbst da, wo er über den Mißbrauch der Frauen und die Prostitution redet, dient es ihm in erster Linie dazu, zu fordern, auch die Verbote gegen die Homosexualität aufzuheben: 

"Wenn aber die Kontraktfreiheit zwischen Mann und Weib so hoch steht, daß jeder Geschlechtsgenuß, zu dem das Weib seinen Körper verkauft, legitimirt ist, so ist ein vernünftiger Grund nicht abzusehen, warum ein ähnlicher Kontrakt zwischen Mann und Mann strafrechtlich geahndet werden soll."

Wenn sie in puncto Bernstein schreiben

"So he is preparing the Social Democratic Party to back the repeal of laws against homosexual acts. Fine. A legitimate and progressive bourgeois democratic right to be protected, which helps the unity of working people against capitalism."

so unterstützen sie wie all jene, die sich unbekümmert des sozialen Gehalts der Homosexualität für ihre Gleichberechtigung einsetzen, diese Propaganda. Sie helfen nicht der unity of working people against capitalism, sie schaden ihr.

weklu, 11.3.99