Internet Statement 2009-12

 

         Der Fall Kurras
             oder die sog. Ersparung der Radikalisierung

Walter Grobe, 23.5.2009  

Am 23. Mai 2009 wabert die mediale Atmosphäre über der Bundesrepublik Deutschland von inständigen Wünschen der herrschenden Kreise, ihnen möge die Radikalisierung erspart bleiben. Das versuchen sie nicht nur im Hinblick auf die kommenden Auseinandersetzungen, sondern gleich auch noch im Ringen mit der Vergangenheit.

Enthüllungen über die Stasi- und SED-Zugehörigkeit des Westberliner Polizisten und Beamten des Staatsschutzes Kurras, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoß, werden von so manchem Autor zum Ausgangspunkt rückwärtsgewandter Wünsche genommen, der BRD und Westberlin hätte die revolutionäre Jugend- und Studentenbewegung „erspart“ bleiben können. Als sei diese nicht aus den eigenen Verhältnisse entsprossen, sondern ihnen durch Machenschaften des angeblichen Kommunismus der DDR ins Haus getragen worden. Gleichzeitig beweihräuchern sich Vertreter der herrschenden Kreise gegenseitig zum 60. Jahrestag des sog. Grundgesetzes, einer Absprache der westlichen Besatzungsmächte mit ein paar kapitalistischen Restpolitikern des Zusammenbruchs 1945 – ein Produkt, das man wohl nicht ohne tiefere Gründe 60 Jahre lang dem Bürger nicht zur Entscheidung vorgelegt hat. Aber für Ermahnungen an denselben, sich an eine angeblich grundgesetzliche Absage gegenüber jeglicher Radikalisierung zu halten, sind die Paragraphen jetzt anscheinend erst recht gut. Es sind dieselben Kreise, die die Radikalität des Finanzschwindels voll mitgetragen haben und nun die kapitalistisch zwangsläufig folgende Enteignung der Bevölkerung organisieren¸ die seit langem eine Bevölkerungspolitik verantworten, die sich radikal gegen die Nation richtet. Gleichzeitig hält der zur Reanimation im Amt anstehende Bundespräsident eine Ansprache des Ökologismus, einer Doktrin der wissenschaftlichen und technischen Selbstamputation, die dem Kapitalismus die innewohnende ökonomische Radikalisierung „ersparen“ soll und zur Lebenslüge des Staates BRD geworden ist.

Im Zeichen einer sich ständig weiterentwickelnden tiefen Krise des Kapitalismus haben derartige Stoßgebete einer Klasse, die sich der Verantwortung für das eigene Wirken entziehen will, einen tiefgefühlten aktuellen Gehalt.

Hätte die Entwicklung der revolutionären Jugend- und Studentenbewegung einen wesentlich anderen Verlauf genommen, wenn bereits 1967 die SED-Verbindungen des Kurras bekannt geworden wären? Leider ist längst über Medien und Schulen eine dermaßen verdrehte Darstellung der damaligen politischen Entwicklungen etabliert worden, daß die Frage vielen, insbesondere jüngeren Mitbürgern vielleicht nicht als so abwegig erscheint wie sie es im Lichte der tatsächlichen damaligen Entwicklung ist. Die Triebkräfte des politischen Bewußt- und Aktivwerdens zahlreicher Studenten und Jugendlicher überhaupt damals lagen viel tiefer und waren viel breiter als die Empörung über einen staatlichen Mord an einem Demonstranten, und die Erkenntnis über die radikale Gewalttäterei dieses Staates gegenüber Bürgern, die ihre demokratischen Rechte in Anspruch nehmen, speiste sich mitnichten allein aus dem Tod von Benno Ohnesorg.

Dieses Ereignis spielte zweifellos eine große weiter mobilisierende Rolle, aber die politische Mobilisierung war bereits vorher von Grund auf in Gang gekommen, und auch im weiteren gab es eine derartige Fülle von Polizeibrutalitäten gegen Demonstranten, weitere Polizeimorde und perfide geheimpolizeiliche Machenschaften, daß es eine unlösbare Aufgabe selbst für die Meister der Selbstgerechtigkeit Marke BRD sein dürfte, sie alle nachträglich der SED in die Schuhe zu schieben.

Zudem hatte Skepsis über den vorgeblich demokratischen und sozialistischen Charakter des ganzen sog. Friedenslagers unter der Führung der damaligen Sowjetunion gerade auch in der beginnenden Jugend- und Studentenbewegung schon damals um sich zu greifen begonnen, davon war auch die DDR mitbetroffen. Hätte bspw. die Westberliner Regierung, damals unter dem SPD-ler und evangelischen Pastor Heinrich Albertz, einem der Inspiratoren der sog. Entspannungspolitik gegenüber dem sowjetischen Sozialimperialismus, die Identität des Kurras enthüllt (daß sie vielleicht davon wußte, ist eine durchaus interessante und gar nicht so fernliegende Frage, der die Historiker nachgehen sollten), oder wäre das auf anderem Kanal herausgekommen, dann wäre höchstwahrscheinlich der revolutionäre Trend in der Bewegung sogar gestärkt und beschleunigt worden.

Revolutionären Schwung und Masseneinfluß konnte diese Bewegung im weiteren ja erst dadurch gewinnen, daß sie sich nicht nur mit dem Kapitalismus des eigenen Bereichs, des sog. Westens, sondern auch mit dem Wiederentstehen des Kapitalismus auf der anderen Seite, dem „Revisionismus“, auseinandersetzte, mit der Wiedererstarkung von Ausbeutungsverhältnissen im sog. „Real existierenden Sozialismus“, mit der sozialfaschistischen politischen Unterdrückung (so sagte man damals ausdrücklich) unter dem Regime von Breschnew und anderen in der Sowjetunion. Eine solche Entwicklung wäre durch Bekanntwerden politischer Beziehungen von Kurras natürlich nicht abgewendet, sondern sie wäre im Gegenteil gestärkt worden. Vielleicht hat Albertz deswegen geschwiegen? Dann folgte am 21. August 1968 die Invasion der Truppen der Sowjetunion und anderer verbündeter Staaten des damaligen Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei, wenig mehr als ein Jahre nach dem Mord an Ohnesorg. Die Kritik sowohl am imperialistischen Charakter des Sowjetrevisionismus wie auch an dem stillschweigenden „Kondominium“ von USA und Sowjetunion wurde dadurch erst recht befeuert, naturgemäß gerade in Europa, und wäre erst recht nicht abzuwenden gewesen. [siehe dazu auch Die Folgen des 2. Juni 1967 – einiges aus der Erinnerung von Hartmut Dicke vom 3.Juni 2007)

Interessant wären Versuche, von diesen politischen Rahmenbedingungen her einmal den konkreten Ablauf des 2. Juni und die Beweggründe des Kurras wirklich aufzuarbeiten. Immer wieder ist in den letzten Jahrzehnten, im Grunde schon seit dem Fall Guillaume-Willy Brandt, die starke wechselseitige Unterwanderung der Geheimdienste der BRD und der DDR, d.h. aber auch der Sowjetunion, als politisch höchst brisanter Komplex aufgeblitzt, aber immer wieder mußte man auch konstatieren, daß weder auf Seiten der westlichen Politiker noch der über den Zusammensturz der DDR nörgelnden Vertreter ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, die wechselseitigen Abhängigkeiten, ja Verzahnungen aufzuklären. Selbst in einem Artikel der „FAZ“ v. 23.5.2009 mußte erwähnt werden:

„Der Berliner Zeithistoriker Manfred Wilke ist der Ansicht, der zufällige Fund der Kurras-Akte im Bestand der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zeige abermals, dass seit der Übergabe der „Rosenholz“-Dateien an die Behörde nicht systematisch an der Westarbeit des MfS gearbeitet worden sei. Wilke fordert, der Deutsche Bundestag solle nun der Behörde den förmlichen Auftrag erteilen, die Arbeit der Auslandsabteilung des MfS, der Hauptabteilung Aufklärung (HVA), grundlegend zu untersuchen.“

(Die „Rosenholz“-Dateien sind Akten des MfS – DDR-Ministerium für Staatssicherheit - über ihre geheimdienstliche Tätigkeit in der BRD und im Westen überhaupt, die 1989 aus ungeklärten Gründen nicht etwa den BRD-Behörden in die Hände gerieten, sondern den US-Geheimdiensten. Es dauerte bis 2003, fast 14 Jahre, bis diese schließlich die Akten – vollständig? -- auch der BRD zugänglich machten. Ein sonderliches Interesse auf Seiten der BRD an der Erstattung und Auswertung dieses hochbrisanten Diebesgutes, das über so manchen Politiker des Westens und so manchen politischen Vorgang kompromittierende Enthüllungen verspricht, konnte bis heute nicht verzeichnet werden. wgr)

Man muß also beim 2. Juni 1967 die geheimdienstlichen Verzahnungen bspw. zwischen der DDR und der BRD berücksichtigen, die damals sicher schon in erheblichem Ausmaß bestanden, man muß das Interesse sowohl der BRD als auch des von der Sowjetunion abhängigen „Lagers“ einschließlich der DDR an der Abwendung wirklich revolutionärer, nach beiden Seiten kritischer und unabhängiger politischer Bewußtwerdungen berücksichtigen.

War es eine Provokationshandlung der Stasi oder sowjetischer Stellen, mit der der Zorn der Bewegung auf den westlichen Apparat fokussiert werden sollte, und zwar beispielsweise so, daß für die offenen politischen Agenturen der eigenen Seite, bspw. die spätere DKP, die Bedingungen günstig beeinflußt würden? So fragen jetzt manche Schreiber in den bürgerlichen Zeitungen. Die Frage hat aber eine logische zweite Hälfte, die von denselben Autoren wohlweislich unterschlagen wird: sollte der westliche Apparat mittels der ihm entgegenschlagenden Empörung entgegenkommender für die sowjetische Seite gemacht werden, zu mehr Gemeinsamkeit in der Unterdrückung revolutionärer Bewegungen im eigenen Bereich wie auch rund um die Welt genötigt werden? Und sie tun auch so, als hätte die dann 1968 aufgrund von Geheimverhandlungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesregierung zustandegekommene DKP tatsächlich die Bewegung aufnehmen und weiterentwickeln können. Platte Geschichtsfälschung. Die DKP und verwandte Organisationen tragen von Anfang an die entsprechenden Male. Sie konnten nie ernstlich Massen ergreifen und gesellschaftlich etwas bewegen. Sie übten zwar eine gewisse Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen im Westen, gingen aber nicht wirklich in die Tiefe, und biederten sich gleichzeitig daran an; sie zielten auf ein gemeinsames Vorgehen mit gewissen Kräften im Westen gegen die revolutionäre, genuin von Marx inspirierte Bewegung, sei es die in den eigenen Ländern, sei es gegen das damals tatsächlich sozialistische China. Solche Organisationen konnten niemals wirklichen Massencharakter annehmen, und sie waren es auch nicht, die die folgenden Jahre in Westberlin und Westdeutschland entscheidend geprägt haben. Das konnten nur diejenigen Kräfte, die gegen Kapitalismus und Revisionismus gleichzeitig angingen und auf dieser Basis ein Wieder-Anknüpfen an der proletarisch-revolutionären Bewegung vertraten, aber aus der heutigen offiziösen Geschichtsdarstellung zumeist regelrecht rausretuschiert sind. Nur zuweilen wird dieser Zweig der Bewegung erwähnt als angeblich spinnerte Randerscheinung der sog. „K-Gruppen“. Dabei macht sich die bürgerliche Propaganda die Erscheinung zunutze, daß dieser Zweig der Bewegung, der damals Zehntausende umfaßte, nicht nur von außen, sondern auch von innen bekämpft wurde. Karrieristische Elemente, die sich vorher noch diesem Schritt vorwärts entgegengestemmt hatten, sprangen auf den Zug auf, den sie nicht hatten anhalten können, gründeten mehrere Organisationen, die sich geschickt in Worten anpaßten und nun ihrerseits verkündeten, „das Zentrum“ zu sein. Mit Hilfe ihrer Beziehungen und Verbindungen in die bürgerliche Oberschicht gelang es ihnen, große Apparate aufzubauen und das Bild zu dominieren, dabei auch viele ehrlich gesonnene Menschen anzuziehen. Als sie schließlich genügend Desorganisation und Zerstörung angerichtet hatten und den Rest der unter ihrem Einfluß stehende Menschen mit dem „Kampf gegen Kernenergie“ und dergleichen auf ein völlig falsches Gleis gebracht hatten, warfen sich diese Kräfte dann zumeist auf den Aufbau der Grünen Partei und wurden schließlich zu staatstragenden Kräften. Unsere Organisation hat den richtigen Ansatz bis heute unter schwierigsten Bedingungen weitergeführt.

Es ist ein weiteres Hauptelement der massiven und perfiden Geschichtsfälschung, von dem Mord an Ohnesorg eine angebliche Hinwendung der Bewegung zu terroristischen Methoden wie bei der „Bewegung 2. Juni“, der „RAF“ etc. abzuleiten, die dann die Geschichte geprägt hätten. Das kann man nur dann unternehmen, wenn man die wirkliche revolutionäre Massenbewegung der folgenden Jahre, die am Kapitalismus wie am Revisionismus eine in die Tiefe gehende Kritik übte, und die politischen Anstrengungen, auf dieser Grundlage zur Bildung einer revolutionären Massenpartei zu kommen, verschweigt und an ihre Stelle solche dubiosen terroristischen Gruppen setzt. Diese, weit entfernt davon, die politischen Erben und Ausformungen der revolutionären Jugend- und Studentenbewegung gewesen zu sein, stehen im Gegenteil nicht erst seit heute unter massivem Verdacht, von Geheimdiensten infiltriert und gesteuert gewesen zu sein, und zwar unter Anteil des „Westens“ wie des „Ostens“. Die Hochputschung des sog. Terrorismus durch Geheimdienste, Politiker, Justiz und Medien, die damit angeblich gerechtfertigte Intensivierung der Polizeistaatlichkeit und die damit betriebene Volksverhetzung gegen echte mit den Massen verbundene revolutionäre Parteiansätze sowie deren schließliche Zerkrümelung, auch mittels der ökologistischen Verblödung und Korruption, war die Strategie dieses Staates, mit der er sich nach einer ganzen Reihe von Jahren intensiven Ringens schließlich aus der inneren Herausforderung durch die zahlreichen Ohnesorgs und ihre weitere politische Bewußtwerdung herausgewunden hat.

Diese Art von Geschichtsfälschung ist überhaupt das A und O der bundesrepublikanischen Lehren über diese Phase der eigenen Geschichte.

 

 

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