Internet Statement 2016-63

 

Die Sorge der Imperialisten um Syrien und die Zivilbevölkerung

Klas Ber  05./06.09.2016    

Es gibt eine Menge an Widersprüchen unter den Imperialisten, den Großmächten wie den kleineren und solchen die gerne welche wären, bei ihrer Rivalität um Gebiete die sie ausbeuten können, um Rohstoffe wie Absatzmärkte und Einflußsphären, was auch beim diesjährigen sog. G-20-Gipfel, der in Hangzhou, China stattfand, zum Ausdruck kam.
Und Syrien ist dabei ein Land auf das sich der Imperialismus derzeit besonders konzentriert, wo die Rivalitäten verschiedenster Kräfte aufeinander prallen, zeitweise auch Kollaboration stattfindet. Seit Jahren wird ein Krieg in und um Syrien geführt. Die Regierung soll gestürzt werden. Das Land soll unter imperialistische Kontrolle gebracht werden. Seit Jahren ist Syrien deshalb ein von diesen Kämpfen geschwächtes zerstörtes Land mit einer ungeheuer geschundenen und leidenden Bevölkerung. Und jeder dieser Mächte - die jeweils auf ihre Art die verschiedenen scharfen inneren Widersprüche zwischen der Bevölkerung und dem Regime ausnutzen um sich dort einzumischen - getrieben vom Bestreben seinen eigenen Einfluß in der Region durchzusetzen, auszuweiten oder zu behaupten bzw. Rivalen auszuschalten oder zumindest doch klein zu halten, treibt den dortigen Krieg und die Zerstörung Syriens und der Region weiter voran. Kein Wunder also, daß auch beim G-20-Gipfel Syrien, wenn auch nicht offizieller Tagesordnungspunkt, Gegenstand von bilateralen Gesprächen wurde.

So berichtet der Spiegel, wie andere Zeitungen auch, daß bei einem Treffen zwischen Merkel und Erdogan die Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens zu Flüchtlingen sowie "die gemeinsame Sorge um den andauernden syrischen Bürgerkrieg" Thema gewesen sei. Konkretes erfährt man nicht. Fragt sich also was sollte deren gemeinsame Sorge sein?
Aber gerade erst, am 24. August, ist die Türkei in Syrien mit Bodentruppen samt islamistischen Gruppen einmarschiert. Und die Bundesregierung hat dazu ihre Unterstützung bekundet. Hier liegen die Interessen also zusammen. Und wenn danach von gemeinsamer Sorge über den Krieg in Syrien gesprochen wird, kann man das wohl nur als Heuchelei und Falschheit sehen. Die ehrliche Sorge darum, die Ursachen für die Leiden der Zivilbevölkerung, für die großen Flüchtlingsströme aus der Region und den brutalen Krieg in und um Syrien wirklich zu stoppen, kann es nicht sein, weil man das nur erreicht, indem alle Kampfhandlungen und Aggressionen gegen Syrien, überhaupt die ganze Einmischung, eingestellt werden. Aber nicht, indem man neue Aggressionen verübt und unterstützt. Dem muß man entgegentreten. Wer das ehrlich meint wird sich entschieden auch gegen den türkischen Einmarsch stellen und das nicht noch unterstützen. Eine entschiedene Verurteilung jeglicher äußeren Einmischung in die Angelegenheiten Syriens und Befeuerung des Krieges ist gefordert, denn es ist die Angelegenheit des syrischen Volkes über seine Regierung zu entscheiden, wie auch immer. Das aber geschieht nicht, von keiner der Parteien die sich da einmischt. Was für eine riesige Heuchelei ist also diese zur Schau getragene Sorge.


Am 24. August begann die Türkei in Syrien mit Bodentruppen einzudringen. Das ist seit Beginn des Krieges in und um Syrien ein durchaus bedeutender Vorstoß, daß eine äußere Macht offiziell mit Bodentruppen, Panzern, unterstützt von Kampfflugzeugen, ihrer eigenen wie die der USA, in Syrien einmarschiert ist. Und das mit direkter Zustimmung der USA, wie der Bundesregierung, Frankreich. Praktisch steht auch die Nato dahinter. Oder wer hat sich dem entgegen gestellt, wer hat das verurteilt? Auch von Rußland hat man kein entscheidendes Nein gehört. Die "Euphrat Schild Operation", wie sie genannt wird, ist die erste von türkischem Boden aus geführte direkte Intervention in Syrien seit dem Beginn der "syrischen Krise" im Jahr 2011.

Wie anders 2014. Im Oktober hatte sich der Daesh (IS) fast bis zur Grenze der Türkei vorgekämpft und versuchte mit einem Großangriff die Grenzstadt Kobane einzunehmen. Viele Menschen waren geflohen und der UN-Sondergesandte für Syrien warnt vor einem Massaker an Zivilisten in der syrischen Ortschaft. Da war es Erdogan keine "Einmischung" wert. Obwohl die Türkei an der Grenze Panzerverbände in Schuss- und Sichtweite von Kobane stationiert hatte, sah sie dem einfach nur zu. Die kurdischen Milizen aber verteidigten Kobane in einem harten Kampf, letztlich auch erfolgreich, dann auch unterstützt von der US-Luftwaffe.

Man kann davon ausgehen daß die Pläne zu "Euphrat Schild" bereits lange vorbereitet waren. Zuletzt wurde im Februar dieses Jahres darüber berichtet, daß die Türkei den Einsatz von Bodentruppen fordert, und es darüber in dem sog. "Anti-IS-Bündnis" Beratungen gegeben hat. Nur wollte zu diesem Zeitpunkt das Nato-Mitglied Türkei nicht alleine handeln. Jetzt hat die Türkei in gewisser Weise, die neu geschaffene politische Konstellation ausnutzend, das durchgeführt und praktisch auch dem damit näher zu kommen was Erdogan vorher schon immer gefordert hatte: Entlang der Grenze eine zehn Kilometer breite sog. Schutzzone in Syrien einzurichten. Und prompt ist nun zu hören, daß Erdogan auf dem G20-Gipfel wieder damit vorstellig wurde eine Flugverbotszone in Nordsyrien einzurichten. Etwas was auch von der Bundesregierung und der EU unterstützt wird. Vorgeblich will man dort Flüchtlinge unterbringen, solche aus Syrien wie dorthin zurückgeführte Flüchtlinge. Das gehört dann wohl auch zu dem Merkel-Erdogan-Abkommen zu Flüchtlingen?! Was für eine Verarschung, erst werden die Kämpfe in Syrien befeuert, dann wird direkt mit Bodentruppen interveniert und im Zuge davon, unter dem Mantel der angeblichen Sorge um die durch all das entstandenen Flüchtlinge, will sich Erdogan sein Teil von Syrien absichern lassen.
Raus mit allen Imperialisten und Möchtegern-Potentaten, wie ihren Handlangern aus Syrien - und der Region!

Um in seinen Ambitionen weiter zu kommen, zieht Erdogan die anderen weiter damit rein, was sich aber leicht für alle Beteiligten in einem großen Desaster von ungeahnter Reichweite ausweiten kann.
Die Türkei hatte gerade eine wesentliche Veränderung in ihrer Politik vorgenommen zu Rußland wie auch zum Iran hin. Man spricht sogar von Partnern. Um dann relativ kurz nach dem etwas merkwürdigen Putschversuch v.15./16. Juli in der Türkei, aus dem dann allerdings Erdogan gestärkt hervorging, am 24. August diese Aggression gegen Syrien zu starten. Das richtet sich gegen Syrien. Der Kampf gegen den Terrorismus des Daesh mag zur Zeit angesagt sein, wird aber als Vorwand benutzt. Wenn man sich die Entwicklung dieser islamistischen Kräfte von Afghanistan aus über Al-Qaida bis hin zum Daesh (IS) in Irak und Syrien betrachtet, sieht man, daß der Imperialismus, vor allem der USA, ein Verhältnis von regelrechter Förderung oder Duldung wie Bekämpfung zu diesen Kräften hat, abhängig davon wie er sie braucht und wie es in seine Globalstrategie paßt.

Kennzeichnend und nicht zu vernachlässigen ist auch, daß die Türkei bei ihrer Intervention mit Bodentruppen dabei auch mit islamistischen Gruppen operiert. So berichtet z.B. "Die Welt" am 28.August darüber und den Charakter dieser Gruppen:

"Offiziell spricht Ankara davon, mit der Freien Syrischen Armee (FSA) zu kooperieren. Rund 2000 Kämpfer dieser Miliz zog Ankara in den Tagen vor dem Einmarsch in türkischen Kasernen zusammen, um sie auszurüsten und einzuschwören. Die FSA war das erste größere Militärbündnis der Opposition gegen das Assad-Regime und gilt als gemäßigt. Mittlerweile aber rangiert bei zahlreichen ihrer Untergruppen die Religion weit vor einer prowestlichen Orientierung oder gar einer demokratischen Grundhaltung. In Dscharablus nahm offiziell nur eine einzige radikal-islamistische Organisation teil, nämlich Ahrar al-Scham.
So versichert es jedenfalls der FSA-Stabschef Ahmad Berri bei einem eiskaltem Orangensaft auf der Terrasse des Starbucks-Cafés der türkischen Grenzstadt Gaziantep. "Warum auch nicht", sagt Berri. "Sie sind keine Terroristen." Dabei vergaß er zu erwähnen, daß Ahrar al-Scham 2011 von al-Qaida gegründet worden war. Zudem plant die Gruppe einen Zusammenschluß mit den Al-Qaida-Kollegen der Al-Nusra-Front. Die hat sich kürzlich in "Armee der Eroberer" umbenannt und vom internationalen Terrornetzwerk losgesagt, ist aber ideologisch weiter auf Dschihad-Linie.

Die türkische Armeeführung ließ sogar Mitglieder von Nureddin al-Zenki für die gemeinsame Operation zu – obwohl diese Brigade im Juli in die Schlagzeilen gekommen war, weil einige ihrer Milizionäre einen zehnjährigen Jungen in Aleppo vor laufender Kamera enthaupteten." [1]

Nun ist Merkel nicht allein, auch die Äußerungen des Außenministers Steinmeier sind nicht anders als wie oben charakterisiert zu bewerten. Er betont zwar immer gerne, man könne die Konflikte nicht militärisch lösen, "Militärisch läßt sich Syrien nicht befrieden."[2], hat aber gleichzeitig größtes Verständnis für den türkischen Einmarsch in Syrien und hält das für richtig:

"Aber man muß schon auch sehen, daß die Türkei immer wieder von Syrien aus angegriffen worden ist, allen voran von der IS-Terrormiliz. Die Menschen im Südosten der Türkei leben in ständiger Angst vor neuen Anschlägen. Da ist verständlich, und es ist richtig, daß die Türkei dagegen vorgeht." [2]

Aber zu beachten ist dabei doch wohl immer auch, wie dagegen vorgegangen wird und daß die Souveränität eines Landes nicht verletzt wird, oder? Wenn es um die eigenen imperialistischen Interessen geht oder die der Partner vergißt auch Steinmeier schnell, daß es die Souveränität eines Landes zu beachten gilt. Nicht alles läßt sich mit dem Kampf gegen den IS rechtfertigen und zu Recht biegen. Nebenbei, wie will dieser Außenminister, der soviel in Diplomatie macht, eigentlich für die Souveränität der Ukraine eintreten?

Selbstredend daß die USA diesen Einmarsch ebenfalls unterstützt. Und Rußland hat sich lediglich besorgt geäußert über die Situation und die Türkei, seinen neuen "Partner", aufgefordert, sich mit Syrien in Bezug auf die Bekämpfung des Terrorismus zu koordinieren. Also auch von Rußland keinerlei Zurückweisung der Türkei. Und wenn die beiden dann, USA und Rußland - die selbst schon mit ihrer Luftwaffe und sonst wie mitten drin stecken in den Kämpfen in Syrien, und der Region - über Syrien verhandeln, dann kann man sich denken, worum es dabei geht.

Richtig wäre etwas anderes, daß die gesamte Bevölkerung Syriens zusammengeführt wird und zwar so, daß sie gegen den Daesh und die islamistischen Kampfgruppen Widerstand leisten kann, wie auch jede Einmischung zurückweisen kann. Mit jeglicher äußeren Einmischung muß Schluß gemacht werden. Auch daß die syrische Regierung im Kampf gegen Daesh und islamistische Kampfgruppen die syrische Bevölkerung bekämpft ist vollkommen inakzeptabel. Aber gerade derartiges ist ja nicht gewollt. Syrien soll für den Imperialismus kontrollierbar und ausbeutbar sein. Die syrische Regierung will man stürzen, auf alle Fälle letztlich weg haben, alle Mittel scheinen dabei recht. Darauf zielte die Einmischung von verschiedensten Staaten aus, wie z.B. Saudi-Arabien, Katar oder andern Golfstaaten oder imperialistischer Mächte wie den USA, von Anfang an und nach wie vor. Als sich vor fünf Jahren im Zusammenhang mit dem "Arabischen Frühling" der Protest in Syrien gegen die Unterdrückung durch das Regime entwickelte, es zu großen Massenprotesten der Bevölkerung gegen das Assad-Regime kam und das Regime dagegen seinerseits brutalst auch militärisch vorging, wurde das ausgenutzt und das Ganze zu einem bewaffneten Kampf befeuert der von Anfang an von ihrer Unterstützung abhängig war und wobei insbesondere die islamistischen Kräfte aufgebaut und unterstützt wurden.

Gerade Erdogan ist doch bekannt als einer, der von Anfang an den Sturz von Assad gefordert und betrieben hat. Wobei er den Krieg gegen Assad immer befeuerte und dazu verschiedenste islamistische Gruppen und Kräfte einschließlich des Daesh, je nach Gebrauch, dazu unterstützt hat. Auch jetzt bei seinem Einmarsch operiert er zugleich wiederum mit islamistischen Gruppen. Syrien hat dagegen entschieden protestiert und dieses als „krasse Verletzung der syrischen Souveränität“ gebrandmarkt und zugleich darauf hingewiesen:
"Türkische Panzer und gepanzerte Fahrzeuge überquerten die syrisch- türkischen Grenze in Richtung Jarablos Stadt unter dem Schutz der US-geführten Allianz Luftstreitkräfte, um die Stadt aus der Kontrolle der ISIS Terrororganisation zu entreißen und sie anderen Terrorgruppen zu unterstellen, die unter dem Kommando von Washington und Ankara operieren."
(eigene Übersetzung aus dem Englischen) [3]
Man kann festhalten: die Souveränität eines Landes ist auch für die hiesige Regierung nichts wert, sobald es dabei um ihre imperialistischen Interessen oder die ihrer Verbündeten geht. Und es gibt überhaupt keine Bestrebungen seitens dieser Regierung, diesem Krieg auch nur irgendwie entschieden entgegenzutreten und dem ein Ende zu setzten. Im Gegenteil, es wird mit solchen Kräften wie Erdogan paktiert, auch auf diesem Gebiet. Und man scheut sich nicht, direkt an der Seite eines Landes zu stehen, welches jetzt mit Bodentruppen zusammen mit islamistischen Kampfgruppen ganz offen in Syrien interveniert.


Syrisch-kurdische Organisationen

Für die USA spielten die syrisch-kurdischen Organisationen eine besondere Rolle als Bodentruppen. Bodentruppen die die USA selbst dort nicht reinschicken will, jedenfalls nicht in großer Zahl.
Dieser Einmarsch türkischer Truppen zusammen mit islamistischen Kampfgruppen trifft nun die kurdischen Organisationen in Syrien erstmal ganz direkt und dagegen muß man sich genau so entschieden wenden, denn diese Intervention richtet sich gegen Syrien und diese Truppen haben in Syrien nichts verloren. Zwischen den kurdischen Organisationen in Syrien und den USA gibt es allerdings ein mehr als fragwürdiges Verhältnis. Die USA hat ihnen nach dem Eindringen der Türkei in Syrien gedroht ihnen ihre Unterstützung zu entziehen, wenn sie sich nicht an das Ostufer des Euphrat zurückziehen würden. Da kehren die USA doch ihren wahren Charakter, den des imperialistischen Besatzers, raus. Allerdings warum kämpfen syrisch kurdische Organisationen überhaupt für deren Interessen und lassen sich von denen einspannen?
Schaut man in den Irak, dort haben die Kurden durch den Krieg der USA gegen den Irak eine gewisse Autonomie erlangen können, aber eben nur durch den Schutz der USA, die damals im Nordirak eine Flugverbotszone gegen irakische Kampfflugzeuge einrichtete und daß im weiteren ein Interesse der Imperialisten an der ungestörten Ausbeutung der dortigen Ölvorkommen besteht. Spekulieren die syrisch-kurdischen Organisationen auf ähnliches? Der Irak selbst ist heute zerrissen und liegt danieder. Bagdad ist zu einer Stadt mit ummauerten Bezirken geworden, zum Schutz vor Angriffen und Terror.
Und verteidigen die syrisch-kurdischen Organisationen Syrien? Denn es dreht sich bei ihnen vornehmlich immer um ihre Autonomie und um Rojava. Sind sie in dieser Situation, in der Syrien als Gesamtstaat und Macht zerschlagen werden soll, nicht in der Lage sich zur Verteidigung ganz Syriens zusammen zu schließen?


Anmerkungen zum "Gesellschaftsvertrag für Rojava"

Rojava wird hier immer als demokratisches und fortschrittliches Modell gepriesen, sei es in den Medien, sei es in Teilen der Linken. Dafür wird auch demonstriert. Ist denen dabei noch nie aufgefallen, daß dieses Konzept von Rojava entgegen allem Internationalismus steht? Schaut man sich einmal den sog. "Gesellschaftsvertrag für Rojava" [4] an, wird einem so manches klarer. Zu einigen Punkten darin einige Anmerkungen.
Dieses sog. Modell, auch wenn die Grenzen Syriens dabei anerkannt werden, kann eigentlich nur aus dem inneren Zerfall des jetzigen Syrien, der Zentralmacht entstehen. Weil es seine Autonomie gegen jede Zentralmacht stellt. Und diese Zerstörung Syriens - das leisten gerade Imperialisten, die Türkei und bestimmte arabische Staaten, die die islamistischen Kampftruppen stützen. Das wird gar nicht behandelt. Jedenfalls in diese Lage hinein wird für dieses Modell seit Anfang 2014 praktisch auch gekämpft. "Der am 6. Januar 2014 in der westkurdischen Stadt Amudê verabschiedete Gesellschaftsvertrag soll die in Rojava lebenden KurdInnen, AraberInnen, AssyrerInnen, ChaldäerInnen, AramäerInnen, ArmenierInnen, TurkmenInnen und TschetschenInnen vereinen. Ein pluralistisches und demokratisches System soll in den drei Kantonen Cizîrêe, Afrin und Kobanî aufgebaut werden." [4]
Über die Verteidigung Syriens gegen die imperialistische Aggression steht jedenfalls nichts in dem Gesellschaftsvertrag. Die Volksverteidigungseinheiten werden zwar als nationale Institutionen bezeichnet sind aber lediglich für den Schutz der drei Kantone die Rojava umfaßt, Cizîrêe, Afrin und Kobanî, verantwortlich. (Was dort unter Nation verstanden wird, das kann man bei Abdullah Öcalan lesen, dazu weitere unten.)
Schon im vorangestellten Einleitungstext zum Gesellschaftsvertrag, herausgegeben von "Civaka Azad -Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V." [4], wird deutlich, daß diese Autonomie sich praktisch und konkret jetzt jedenfalls von Syrien separiert hat, auch wenn versucht wird etwas anderes zu behaupten. „Die demokratisch-autonome Verwaltung ist Teil eines nicht zentralistisch organisierten zukünftigen Syriens und dessen Vorbild " [4]. Denn das soll ja nur für ein zukünftiges Syrien gelten und dann auch nur unter der genanten Bedingung nicht zentralistisch zu sein. Und in der Präambel steht auch deutlich: "Die Regionen der demokratisch-autonomen Verwaltung akzeptieren weder das nationalstaatliche, militaristische und religiöse Staatsverständnis, noch akzeptieren sie die Zentralverwaltung oder Zentralmacht."

Im Gesellschaftsvertrag wird relativ oft die Glaubensfreiheit beton; das Recht die jeweilige Religion zu praktizieren wird ausdrücklich unter Schutz gestellt; garantiert wird die Durchführung der religiösen Gottesdienste und Rituale. Religiöse und staatliche Angelegenheiten sollen zwar voneinander getrennt werden, aber es gibt keinerlei Festhaltung, daß es sich um einen säkularen Staat handeln soll. Und wer bestimmt dann das Familienrecht, der Staat oder die jeweiligen Religionswächter und Traditionen? Das ist durchaus von zentraler Bedeutung auch für die Emanzipation der Frau. Das wird aber nicht behandelt.
Die Emanzipation der Frauen allerdings ist etwas was der Gesellschaftsvertrag durchaus versucht zu unterstützen. Zum Beispiel ist sehr positiv wenn man liest: "Frauen haben das Recht zur Selbstverteidigung und das Recht, jegliche Geschlechterdiskriminierung aufzuheben und sich ihr zu widersetzen." (Artikel 28) Bravo! Und daß sich die Frauen am Kampf beteiligen, müßte dem auch förderlich sein.
Es bleibt allerdings die Frage, wie weit das praktisch wirklich gemeint ist? Jedenfalls ist da mit viel Widerstand zu rechnen, schon auf Grund der überkommenen Gesellschaftsstrukturen in denen vielfach noch gelebt wird. Man hielt es ja offensichtlich auch für notwendig extra festzuhalten: Frauen haben das Recht auf Leben. Etwas was hier überhaupt keine Frage wäre. "Frauen verfügen über alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte und das Recht auf Leben. Diese Rechte sind zu schützen." (Artikel 27)
Das richtet sich sicher auch gegen sog. "Ehrenmorde", was nur zu begrüßen ist. "Die sogenannten »Ehrenmorde« und Suizide der Frauen sind mit dem Beginn des organisierten Widerstands der Frauen dezimiert worden.", konnte man z.B. in dem Artikel "Perspektiven der Frauenbewegung in Rojava" [5] lesen.

Was sehr zu denken gibt und auch der Emanzipation letztlich entgegensteht ist, daß anscheinend jegliche Assimilation abgelehnt wird und dagegen aufgetreten wird. Was man bei Öcalan öfters lesen kann. Ein Beispiel: "Der Demokratische Konföderalismus befindet sich nicht im Krieg mit irgendeinem Nationalstaat, aber er wird Assimilationsbestrebungen nicht untätig zusehen." [6]

Und ein Dr. Joost Jongerden aus den Niederlanden äußert sich lobend über den Gesellschaftsvertrag in der Weise, daß er hervorgehoben wird. Er sagt u.a.:
"Ich halte das Konzept der Demokratischen Autonomie und des Demokratischen Konföderalismus aus verschiedenen Gründen für wichtig….
Zweitens tritt es der Politik ethnischer, religiöser oder kultureller Assimilation entgegen, da Demokratische Autonomie und Demokratischer Konföderalismus auf der Vorstellung fußen, daß die Menschen das Recht haben, selbst über ihnen wichtige Belange zu entscheiden."
[4]
Und wenn das geradezu Bestandteil ihres Kampfes ist, was ist denn zum Beispiel, wenn eine Kurdin mit einem Mann zusammenleben will der selbst nicht Kurde ist und keiner Religion anhängt? Was denn dann? In der PKK jedenfalls sollen alle sexuellen Beziehungen und Heirat verboten sein.
Auffallend ist auch, daß es eine ökologische Gesellschaft sein muß, eine wo man nach den Prinzipien der ökologischen Gesellschaft zu leben hat, keine säkulare aber eine ökologisch Gesellschaft. Wenn also hier für einen "ökologischen Wiederaufbau von Kobane" geworben wird, ist das nicht einfach ein Nebenpunkt, sondern Programm in Rojava. Paßt also vortrefflich zum hiesigen Ökologismus. Man fragt sich sowieso, wer bei diesem Konzept Pate gestanden hat. Auch die Anarchisten sind voll angetan von dieser Konzeption. Auch nicht verwunderlich, steht doch dahinter eine geradezu antinationale Vorstellung und Konzeption Öcalans, der das ganze angestoßen hat und der ganze Kampf nach wie vor unter seinem Einfluß steht. Es ist so etwas wie ein autonomes, antinationales, und grünes "Gegen"konzept. Was zudem auch noch als Modell für ein zukünftiges Syrien propagiert wird. Praktisch aber beinhaltet es eine Kapitulation.

An dieser Stelle sollen noch einige Zitate von Abdullah Öcalan zur Veranschaulichung angeführt werden, aus dem Text "Die Neudefinition der Gesellschaft - Die Demokratische Nation" [7]. Weil dessen Anschauungen durchaus in dem Konzept dieses Gesellschaftsvertrag seinen Niederschlag finden und eine wesentliche Rolle spielen. So wird der Amtseid, der zu leisten ist, auf den "Namen des erhabenen Gottes" und im "Glauben an die demokratische Nation" geschworen.

"Der Amtseid der demokratisch-autonomen Verwaltung: Ich schwöre im Namen des erhabenen Gottes, daß ich dem Gesellschaftsvertrag und seinen Gesetzen Achtung erweisen werde. Ich werde die Freiheit des Volkes und dessen Interessen verteidigen. Ich werde die Sicherheit und Demokratie der Gebiete der demokratisch-autonomen Verwaltung schützen. Ich werde mit dem Glauben an die demokratische Nation für die gesellschaftliche Gerechtigkeit kämpfen." (Artikel 85)

Wobei aber das, was hier unter Nation verstanden wird, ein idealistisches Konstrukt ist wie es von Öcalan propagiert wird, was zugleich dem Nationalstaat entgegen gestellt wird. "Nation" building a la Öcalan und PKK könnte man es nennen.
"Der gemeinsame Wille des freien Individuums und der gesellschaftlichen Gruppen, eine gemeinsame Nation zu bilden, ist das Bindeglied der Demokratischen Nation." [7].

Der Nationalstaat wird als überholt betrachtet und verworfen:

"In der Aufstiegsphase des Kapitalismus drängte sich der Nationalstaat auf, in seiner Niedergangsphase ist es die Demokratische Nation".

"Die alternative Moderne, welche die Demokratische Nation mit sich bringt, ist die Demokratische Moderne. Die theoretische Grundlage der Demokratischen Moderne, und somit auch der Demokratischen Nation, ist eine antimonopolistische Wirtschaft, eine mit der Umwelt ausgeglichene Ökologie und eine sowohl der Umwelt als auch dem Menschen gegenüber freundliche Technologie."

"Auf der Erde, auf der sich die Gesellschaft in Form von Kommunen entwickelt hat, schlägt nun der Nationalstaat mit seinem zerstörerischen Industrialismus und seinem Drang nach endloser Kapitalakkumulation Wurzeln. Um dem entgegenzuwirken, braucht es die Revolution der Demokratischen Moderne mit ihrer Demokratischen Nation, der kommunalen Ökonomie und der ökologischen Industrie. Dies wäre eine der größten Revolutionen in Richtung einer demokratischen, gleichberechtigten und friedlichen Gesellschaft. Die Demokratische Nation und die kommunale Ökonomie werden selbstverständlich nicht die Technologie und Industrie an sich negieren."

"Für die Demokratische Moderne ist die „heiligste Arbeit“ der Natur- und Umweltschutz" [7].



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Anmerkungen

[1] "Frieden mit Assad?", Die Welt v. 28.8.2016,
http://www.welt.de/print/wams/politik/article157880607/Frieden-mit-Assad.html

[2] Interview "Sind Sie ein Putin-Versteher, Außenminister Steinmeier?" Morgenpost v. 5.9.2016
http://www.morgenpost.de/politik/ausland/article208182401/Sind-Sie-ein-Putin-Versteher-Aussenminister-Steinmeier.html

[3] Syrian Arab News Agency, 24.8.2016,
http://sana.sy/en/?p=86294http://sana.sy/en/?p=86294

[4] "Modell für ein föderales und demokratisches Syrien - Der Gesellschaftsvertrag von Rojava", Civaka Azad -Infoblätter Ausgabe 7/März 2014
http://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2014/03/info7.pdf

[5] "Perspektiven der Frauenbewegung in Rojava" in Kurdistan Report,
http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2014/171/33-perspektiven-der-frauenbewegung-in-rojava

[6] Abdullah Öcalan: Demokratischer Konföderalismus
http://www.freeocalan.org/wp-content/uploads/2012/09/Abdullah-%C3%96calan-Demokratischer-Konf%C3%B6deralismus.pdf

[7] Der Text ist eine Übersetzung aus dem Buch: KÜRT SORUNU VE DEMOKRATIK ULUS ÇÖZÜMÜ - Kültürel Soykirim Kiskacinda Kürtleri Savunmak. Das Buch erschien 1. April 2012.
http://civaka-azad.org/die-demokratische-nation//

 

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