Internet Statement 2018-49

 

 

 

Liebe Genossin D.!

 

  

 

Maria Weiß  21.05.2018

Wenn ich schreibe „Niemand kann etwas für seine Vorfahren“, dann meine ich damit natürlich nicht, daß man sich etwa nicht mit deren Schandtaten auseinanderzusetzen hat. Das glatte Gegenteil ist der Fall, und das zeigt auch meine eigene Praxis. Ich möchte mal folgendes Beispiel sagen. Meine eigenen Eltern waren konservativ, aus einem konservativen bürgerlich-kleinbürgerlichen Milieu, Apotheker, was meinen Vater betrifft und dessen Familie hatte auch während der Zeit des Nazifaschismus zwar Kritik daran, aber nicht soviel davon in der praktischen Umsetzung, was aber nicht heißt, daß sie etwa zu Komplizen direkter Art geworden sind. Letzteres möchte ich überwiegend eigentlich ausschließen. Aber trotzdem waren sie unkritisch, jedenfalls was das praktische gesellschaftliche Engagement betrifft. Darüber kam es zu der Zeit, als ich selbst innerhalb der Jugend- und Studentenbewegung, welche bekanntlich einen tiefen Bruch mit dieser nazistischen Vergangenheit vollzogen hat, aktiv war, zu einem tiefen Bruch auch mit meinen eigenen Eltern. Das ging sogar soweit, daß ich 12 Jahre lang mit meinen Eltern nichts zu tun haben wollte und es auch nicht hatte. Bei Hartmut war es übrigens ganz ähnlich, welcher ebenfalls aus einem eher konservativen Elternhaus stammte, und wahrscheinlich auch noch bei vielen anderen Studenten, die damals mit der fortschrittlichen und revolutionären Bewegung der 1960er Jahre zu tun hatten, ja innerhalb dieser aktiv gewesen sind. Im Unterschied dazu war es eher so, daß diejenigen Kräfte in der damaligen Bewegung, welche eher aus traditionsgemäß linken Familien gestammt haben und deren Eltern vielleicht sogar selber in der KPD gewesen sind und von den Nazis verfolgt oder umgebracht wurden, diesem Trend (der Kritik an der eigenen Herkunft) zum Teil sogar weniger entsprochen haben, da sie ja zunächst einmal gar keinen Bruch damit vollziehen mussten. Pauschalisieren will ich das alles aber natürlich nicht, es gab auch starke Differenzierungen.

 

Wir selbst haben damals diese Entwicklung als eine Art zweifach radikales Brechen (die Formulierung stammt von Hartmut) bezeichnet: zum einen mit der bürgerlich- imperialistischen Gesellschaft selbst, mit der herrschenden Klasse derselben, mit dem ganzen System der Ausbeutung, und zum anderen aber zugleich auch mit der ganzen damit verbundenen Kultur der von dieser herrschenden Klasse geprägten Gesellschaft. Und daraus resultierte dann auch alsbald auch eine tiefe Kritik an der eigenen kleinbürgerlich-bürgerlichen Herkunft, an dem eigenen Elternhaus und natürlich auch an deren Stellung zu ihrer eigenen Vergangenheit und deren teilweise opportunistischer Stellung gegenüber den Verbrechen des Nazifaschismus. Diejenigen Mitglieder der Jugend- und Studentenbewegung, welche selbst aus kommunistischen Familien stammten, hatten eine solche Kritik in dieser Form nicht nötig, denn ihre Eltern waren ja selbst zum Teil Opfer dieser Unterdrückung gewesen, wenn nicht zum Teil selbst im KZ oder anderswie ermordet worden. Für diese bestand daher nicht eine solch zwingende Notwendigkeit, einen solchen tiefen Bruch auch mit der eigenen Verwandtschaft zu vollziehen, wie es bei anderen der Fall war. Nicht ganz ohne Grund sind eine Reihe solcher Vertreter dann später bei den Grünen gelandet.

 

Ich meine also keineswegs, daß man es etwa nicht notwendig hat, sich mit dem, was die eigenen Vorfahren zu verantworten hatten, auseinander zu setzen. Wenn das in dem besagten, von dir kritisierten Absatz in dem besagten IS so erscheint, dann möchte ich das hiermit klarstellen. Ich meine allerdings, daß man eine neue Generation nicht von vornherein für Verbrechen der vorhergehenden in eine Art Sippenhaft nehmen kann, sondern entscheidend ist die Stellung, welche diese gesellschaftlich als auch persönlich dazu bezieht. Entscheidend ist doch, was ein Mensch mit seinem eigenen Leben macht als auch, was er gegenüber anderen macht, welche Stellung er oder sie innerhalb einer Gesellschaft einnimmt. Dazu gehört natürlich ebenfalls eine Stellung zur vorhergehenden Generation und der von dieser bestimmten Gesellschaft. Am deutlichsten kann man es an den heutigen Grünen sehen. Deren Vorfahren waren zum Teil Menschen, welche von den Nazis verfolgt und ermordet wurden, weil sie sich für den gesellschaftlichen Fortschritt einsetzten als auch deren rassistischen Exzessen zum Opfer fielen. Und da sieht man schon den Unterschied. Welche Stellung nehmen denn die heutigen Grünen ein? Das ist die Position der Reaktion gegen den Fortschritt überhaupt, welche durchaus sogar mit den nazistischen Verbrechern von damals und deren Positionen Schnittpunkte aufweist. Da können sie hunderttausend Mal den Nazismus der Vergangenheit kritisieren. Sie selbst nehmen heute eine in der Konsequenz sogar mit jenen vergleichbare und sogar teils noch übertreffende Position ein, indem sie den Menschen selbst zu einer „Fehlentwicklung der Natur“ abstempeln und eine angebliche „Natur“ diesem entgegen setzen und zum alles beherrschenden Gott erklären. Selbst wenn sie hunderttausend Mal den Nazismus der Vergangenheit kritisieren, sie nehmen trotzdem heute eine reaktionäre Stellung gegenüber der Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Fortschritt ein. Es sei denn, sie ändern vielleicht mal irgendwann ihre Anschauungen und werden fähig, diese zu kritisieren.

 

Entscheidend ist eben, welche Stellung man hier und heute zu der Gesellschaft einnimmt, dafür ist man auch verantwortlich und dafür kann und muß man auch zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist damit gemeint, wenn ich geschrieben habe, daß man nicht für seine Vorfahren und deren Taten oder Untaten verantwortlich gemacht werden kann. Es gibt eben keine „Sippenhaft“, aber es gibt sehr wohl eine Notwendigkeit, die Dinge immer wieder neu zu untersuchen und die eigene Position zu hinterfragen. Was aber nicht geht ist, daß man von vornherein als „schuldig“ betrachtet und abgestempelt wird für etwas, was zu einem Zeitpunkt geschehen ist als man selbst noch gar nicht auf der Welt war. Entscheidend ist die Stellung, die man dazu bezieht und nur dafür kann man verantwortlich gemacht werden.

 

Was man aber auch kritisieren dürfen muß, ist die Existenz einer so genannten „Erbsünde“, mal ganz abgesehen davon, daß durchaus interessant wäre zu untersuchen, worin diese eigentlich bestanden hat. Aber das gehört in den Bereich der Religion, sowohl der jüdischen als auch der christlichen als auch der Religionsforschung. Und daß so etwas kritisiert werden dürfen muß, ich denke mal, das wird keinen Streit zwischen uns hervorrufen. Es ist darüber hinaus natürlich notwendig, die Dinge immer wieder neu zu hinterfragen und auch wenn nötig zu kritisieren. Pauschalisierungen sind in den allermeisten Fällen gar nicht nützlich, geschweige denn richtig. Auch kann die Stellung eines Menschen sich im Laufe eines Lebens ändern, wie und in welcher Richtung, das muß dann eben auch hinterfragt werden und hinterfragt werden dürfen und wenn nötig einer neuen Beurteilung unterzogen werden.

 

Selbstverständlich ist es nötig, heutige Kräfte, die den Nazismus verharmlosen oder gar wieder aufleben lassen wollen, in aller Schärfe unversöhnlich zurückweisen. Tendenzen, wie sie sich u.a. bei der AfD gezeigt haben, bei einzelnen Vertretern von denen jedenfalls, sind nicht zu tolerieren. Ein derartiges Wiederauflebenlassen hat allerdings in der heutigen differenzierten und internationalisierten Gesellschaft zum Glück wenig Chancen, da gibt es ganz andere Dinge, die von den reaktionären Kräften der herrschenden Klasse vorangetrieben werden und die auch etwas mit Massenmord zu tun haben. Auf diese sollte man sein Auge richten, das andere dient zum Teil auch zur Ablenkung.

 

Wir haben es heute neben der eigenen Bourgeoisie auch noch mit drei internationalen Supermächten zu tun: Die USA (traditionell) mit Großbritannien im Schlepptau (jedenfalls wieder), Rußland, welches immer noch, wenngleich klassenmäßig gewendet, eine Großmacht mit teilweise imperialen Zielen darstellt, allerdings mit gewissen Variationen, was die Vergangenheit betrifft, als auch China, welches erst Recht nach vorne zu internationaler Einflußnahme auf der ganzen Welt drängt, wenngleich zunächst gegenwärtig noch „auf leisen Pfoten“, etwas leiseren jedenfalls als vor allem der gegenwärtige Schreihals aus den USA. Dann gibt es auch noch die EU, welcher man heute durchaus gewisse imperialistische Zielsetzungen, allerdings in etwa kleinerem Maßstab, nicht mehr absprechen kann, alle drei (vier) in heftiger Rivalität miteinander und gegeneinander befunden und beschäftigt. Noch, muß man sagen, denn eine Angela Merkel in diesem erlauchten Club nimmt sich gegenwärtig noch relativ „harmlos“ aus, was allerdings sich auch schnell ändern kann, da die deutsche Bourgeoisie alles andere als harmlos ist, wie man nicht nur aus der Geschichte weiß, welche durchaus unter anderen Umständen wieder dazu neigen könnte, auch im eigenen Land wieder einen Faschismus zu entwickeln, vielleicht in einer etwas anderen Form. In gewisser Weise haben sie ja den alten noch nicht einmal völlig abgelegt: die NPD ist noch vorhanden, welche das ganz offen vertritt, zum Glück bis jetzt mit wenig Chancen, das wieder in Realität umsetzen zu können. Selbst mit Hilfe der AfD haben sie dafür gegenwärtig wenig Chancen, was allerdings nichts über deren Möglichkeiten bei einer mit Gewissheit kommenden weiteren ökonomischen Krise aussagt. Man denke nur daran, daß in dem Moment, wo sich AfD-Leute in Dresden mit solchen zusammen getan haben, haben sie zwar massiv gesellschaftlich verloren, weil eine solche Diskreditierung hier zum Glück gegenwärtig wenig Chancen hat, was aber unter anderen vor allem ökonomischen Bedingungen auch anders aussehen kann. Daher gibt es durchaus viele Gründe wachsam zu bleiben und ein sehr aufmerksames Auge darauf zu werfen, was sich in dieser Hinsicht tut.

 

Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt dieser Ausführungen, der Situation der 1969er/70er Jahre. Die Gegensätze zwischen den Generationen waren damals äußerst scharf. Hartmut Dicke hat zum Beispiel mal erzählt, daß sein eigener Vater ihm damals gesagt haben soll „Was, du bist Kommunist? Dann muß ich dich jetzt erschießen.“ Er hat es zwar nicht getan, aber das überhaupt so zum Ausdruck zu bringen, das sprach schon Bände über die Gegensätzlichkeit, die sich damals entwickelt hatte. Wir hatten beide über ein ganzes Jahrzehnt hinweg wenig oder (in meinem Fall) gar keinen Kontakt zu unseren eigenen Eltern. Ein Kontakt hat sich erst wieder über die familiäre Entwicklung wieder eingestellt, denn in dem Moment, wo Enkelkinder da sind, da ändert sich dann auch in gewisser Weise zwangsläufig auch das Verhältnis. Aber nicht nur aus diesem Grund, es wurde auch wieder möglich, überhaupt zu diskutieren, ohne gleich „erschossen“ zu werden.

 

(Der Anlaß für diese Ausführungen war eine bestimmte Kritik an dem IS 2018- 23. M.W.)

 

 

www.neue-einheit.com                                        www.neue-einheit.de