Internet Statement 2021-171

 

 

 

Ein Diskussionsbeitrag zu Fragen der DDR-Geschichte

Antwort auf eine Zuschrift zu einem Internet-Statement von Januar1)

 

 

Wassili Gerhard  10.07.2021

Hallo [Name]! Ich werde gerne auf Deine Zuschrift antworten. Leider komme ich erst jetzt dazu, Deine Zuschrift vom ... Juni zu beantworten. Du schreibst:

„Mir gefällt sehr gut, daß hier der scheinheilige Charakter scheinbar linker Organisationen wie BRD-Gewerkschaften, MLPD usw. aufgezeigt wird, daß von denen mit oft grotesk grellem linken Anstrich in Wirklichkeit pro-imperialistische, gegen das Volk gerichtete Politik unterstützt wird.“

Von einem „grotesk grellen linken Anstrich“ bei den BRD-Gewerkschaften habe ich noch nichts bemerkt, der ist eher staatstreu und grün. Dagegen wüßte ich doch bei der MLPD gerne genauer, was Du an denen kritisierst. Da paßt das mit dem linken Anstrich schon ein wenig mehr, aber mancher kritisiert sie deshalb auch von Rechts.

 

Ich werfe ihnen zum Beispiel vor, daß sie die Leninsche Kritik am Arbeiteraristokratismus ablehnen, zwar von kleinbürgerlicher Denkweise reden, aber die materielle Grundlage dafür nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Sie vertreten die grüne Politik und treiben sie sogar ins Extrem. Einerseits reden sie von proletarischer Revolution (in Worten, aber manches Mitglied mag das auch ernst nehmen) Aber dafür unabdingbar ist eben heute auch grundsätzliche Kritik an der grünen Politik und am Arbeiteraristokratismus, die beide die privilegierte Stellung Deutschlands im internationalen imperialistischen System zur Grundlage haben. Das typisch sozialdemokratische Auseinanderklaffen von Wort und Tat, daß letztlich nur eine Nische im kapitalistischen System besetzt wird, kann da exemplarisch beobachtet werden.

Zu meinem von Dir hervorgehobenen Ausspruch:

"Nun werden diese FDJ-Fahnen verständlicherweise nicht für jeden positiv erscheinen,..., zumal diese Organisation völlig unkritisch und verherrlichend zur ehemaligen DDR steht".

Ich finde doch, daß an der DDR erheblich Kritik angebracht ist. Daß die DDR – und darüber hinaus ein ganzes Lager mit mehr oder minder gerechtfertigtem Anspruch einer Alternative zum Kapitalismus, in dem zeitweilig die Hälfte der Menschheit gelebt hat – in dieser Weise untergegangen ist, kann man nicht einfach nur auf die Tätigkeit des Westens schieben, denn dessen Feindschaft ist immer zu erwarten. Wenn die allein zum Scheitern führt, könnte man ja den Versuch bleiben lassen, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten. Es war ein Prozeß, der sich über längere Zeit hingezogen hat. Daß ihnen die DDR schließlich so leicht in die Hände gefallen ist, muß Fragen aufwerfen, welche Faktoren von Innen eine Rolle dafür gespielt haben, daß das so war. Von einer Auseinandersetzung, was da schiefgelaufen ist, habe ich aber bisher noch nichts vernommen seitens dieser Organisation. Da war immer alles toll. Das ist nicht glaubwürdig. In einem längeren Artikel „Aus geschichtlichen Erfahrungen Konsequenzen ziehen“ hat sich unsere Gruppe zum Beispiel recht ausführlich damit auseinander gesetzt, aber nicht nur dort.

 

Die DDR hätte ich am Anfang positiv gesehen, denn dort wurde im Gegensatz zur BRD gründlicher mit dem Faschismus abgerechnet. Menschen wie Ulbricht und andere waren führende Repräsentanten der revolutionären Arbeiterbewegung – aber es fehlten auch die ermordeten hervorragenden KPD-Kader, auch im sowjetischen Exil ermordete. Die DDR hatte ihre Geburtsfehler. Sie ist eben nicht in einer Revolution erkämpft worden, die Menschen haben sich nicht in einer Revolution umgestaltet, die revolutionären Führer haben nicht aus eigener Kraft eine siegreiche Strategie erarbeitet. Da auch die KPD mit der SPD vereinigt wurde, wäre eigentlich zusätzlich eine viel gründlichere Auseinandersetzung mit dem Sozialdemokratismus erforderlich gewesen. Fehler der sowjetischen Politik und der gegenüber der KPD weisungsbefugten Komintern konnten schon gar nicht behandelt werden. Auch wenn der Sowjetunion der allergrößte Dank gebührt, haben sie auch ihren eigenen Revisionismus gehabt und zum Maßstab gemacht, der in den fünfziger Jahren schon bemerkenswerte Blüten hervorbrachte. So widersprüchlich kann die Realität sein, und dann darf man die Widersprüche nicht einfach unter den Tisch kehren.

 

Und man mußte sich auf viel zu viele Wendehälse stützen, die sich nur äußerlich angepaßt hatten. Man hätte eine gründliche Umgestaltung gebraucht, aber dafür hätte man auch mehr Demokratie gebraucht. Die konnte es aber nicht geben, wenn die Besatzungsmacht, die mit Hundertausenden von Soldaten im Land stand und mit Sicherheit auch an der allgegenwärtigen Überwachung Teil hatte, das letzte Wort hatte und nicht kritisiert werden durfte. In der SU entstand im weiteren unter der sozialistischen Oberfläche eine Gesellschaft, die einen neuen Kapitalismus hervorbrachte und mit Elementen des Neozarismus bzw. einer russischen Großmachtpolitik verband. Eine Diskussion von Fehlentwicklungen hätte auch eine Rückwirkung auf die SU gehabt. Manches Thema war Tabu. Eine Kritik wie von unserer Organisation wäre unterdrückt worden bzw. wurde unterdrückt, wie auch die chinesische Kritik unterdrückt wurde.

 

Der SU war eine glatte scheinbar sozialistische Oberfläche in den Ländern des SU-Machtbereichs wichtiger, als wirklicher Klassenkampf, der auch im Sozialismus weiter geführt werden muß, denn mit dem Wechsel der politischen Macht ist die Umgestaltung der Gesellschaft noch lange nicht vollzogen. Es wurde immer mehr so argumentiert, daß die Zugehörigkeit zum von der SU dominierten Block das wichtigste Kriterium sei, ob ein Land sozialistisch sei. Wendehälse, Karrieristen waren so begünstigt gegenüber kritisch denkenden Menschen, die man gebraucht hätte. Das Ziel, daß „jede Köchin den Staat regieren kann“, wurde immer mehr vergessen, die Umstellung von Betrieben mit veralteter Technik auf Dreischichtbetrieb als Fortschritt gefeiert.

„Aus meiner Sicht war das größte Problem der DDR, daß man sich nicht von ideologischen Sichtweisen fernhalten konnte/durfte.“

Ich würde es anders sagen: Statt die Realität anzuerkennen, daß man nicht alle überzeugt hat, und eine wirkliche Auseinandersetzung zu führen, wurde ein Lippenbekenntnis verlangt, von dem oft beide Seiten wußten, daß es nicht ehrlich gemeint war. Das hat Opportunisten begünstigt und kritisch und selbständig denkende Menschen im Zweifel sogar ins gegnerische Lager getrieben. Wenn aber der angeblich sozialistische äußere Schein nicht echt war, vielleicht nicht mal von Seiten der zuständigen Parteikader, (wenn man die vielen sehr schnell ausgetretenen Wendehälse der SED nach 1989/1990 betrachtet, die sich teilweise zu 150-prozentigen Anhängern des Kapitalismus mauserten) was war denn dann der wirkliche Charakter der Gesellschaft? Unsere Gruppe hat sie auf dem Weg zurück in eine bürgerliche Gesellschaft gesehen, bzw. dort in mancher Hinsicht angekommen oder noch nicht davon weggekommen, obwohl es auch gleichzeitig einzelne bewahrenswerte Errungenschaften des Sozialismus gab, die daneben bestanden. Die Frage war für die weitere Entwicklung: Wird es eine neue Revolution geben, wie wir hofften, oder wird es eine offene Ausbeuterherrschaft, entweder wie sie sich in der SU herausbildete oder eine vom westlichen Typus.

 

Ab den achtziger Jahren wurde die DDR immer mehr verlängerte Werkbank des Westens, als ein Billiglohnland, und es liefen die Verhandlungen über eine Konföderation mit der BRD. Das neue Führungspersonal dafür in der DDR wurde schon bekannt gemacht. Doch am Ende hat es nicht mal mehr zu einer Partnerschaft in einer Konföderation gereicht, sondern die DDR fiel in sich zusammen und es kam zur Übernahme. Zu wenige Menschen wollten die DDR, so wie sie war, verteidigen. Manche mögen das inzwischen bereuen, die seitdem feststellen mußten, wie groß ihre Illusionen über den westlichen Kapitalismus waren. Manche trauern auch ihrem überschaubaren kleinen Ländle nach, in dem sie sicher davor waren, unter der Brücke zu landen.

 

Nationalisten sind wir nicht, sondern Internationalisten, aber eine erneute Aufspaltung Deutschlands sehen wir nicht als wünschenswert an. Es war ein Handicap für den Sozialismus, nur in einem Teil der Nation angegangen zu werden, während der andere Teil vom gegnerischen Machtblock besetzt war. Die sowjetische Besatzungsmacht war zunächst ein günstiger Faktor, schien die DDR sogar zunächst früher einen eigenen Weg gehen lassen zu wollen, aber es gab in der UdSSR auch – im weiteren noch verstärkt – eine revisionistische und Großmacht-chauvinistische Entwicklung. Die deutschen Kommunisten gerieten so schnell zwischen zwei Mühlsteine. Als Ulbricht nur sehr vorsichtig Widerspruch gegenüber Breschnew äußerte, wurde er recht bald durch Honecker ersetzt, der die „sozialistische DDR-Nation“ verkündete und daß die Mauer noch hundert Jahre stehen würde, was den offenen Verzicht auf die proletarische Revolution in ganz Deutschland und das Gelöbnis, auf ewig dem sowjetrevisionistischen Machtbereich anzugehören, bedeutete (der gar nicht mehr so lange bestehen sollte).

 

Als die VR China in den Sechzigern den Revisionismus offen kritisierte, was den Enthusiasmus für den Sozialismus in der Jugend im Westen neu weckte, traute sich in der DDR bald keiner mehr öffentlich, sich mit deren Kritik sachlich inhaltlich auseinander zu setzen. Dabei gab es vorher nicht wenig echte Sympathie für die Revolution in China, wovon heute noch damalige Publikationen zeugen. Aber die Sowjetunion verlangte in dieser Hinsicht Kadavergehorsam, was den alten Spießern, die sich nur äußerlich anpaßten, sicher leichter fiel als wirklich revolutionär gesonnenen Geistern, die einen wissenschaftlichen Sozialismus praktizieren wollten, wie ihn auch Marx vertreten hat.

 

Der DDR fehlte auch sehr etwas Vergleichbares wie die Jugend- und Studentenbewegung im Westen, mit der es erst zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit dem Nazifaschismus kam, und mit einer Kultur, die diesen begünstigt hatte, und große Teile wurden auch von der Revolution in China und deren Kritik am Revisionismus in der Sowjetunion inspiriert. Deren Brechen mit dem Untertanengeist und anderen reaktionären Traditionen der älteren Generation hätte auch der DDR gut getan. Leider ist das später in der grünen Richtung versackt. Den bürgerlichen Umsturz in China haben wir übrigens auch vor allen anderen angegriffen.

 

So, das ist jetzt etwas länger geworden. Aber ich wollte möglichst differenziert auf Deine Anfrage eingehen. Das Thema ist eben wirklich komplex.

 


1)  Anläßlich des Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg:
Tausende lassen es sich nicht nehmen, trotz Schikanen zu demonstrieren 

[-- Die Antwort ist anonymisiert.]

 

 

 

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